Auszüge aus Erich Fromm's
"Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten"

Zur Neubestimmung der Psychoanalyse

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Vor allen Dingen ist der Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Ihr besonderes Augenmerk richtet die revidierte Psychoanalyse auf jene psychischen Phänomene, die die Pathologie der gegenwärtigen Gesellschaft begründen: auf Entfremdung, Angst, Einsamkeit, auf die Angst vor tiefreichenden Gefühlen, auf den Mangel an Tätigsein und auf das Fehlen von Freude. Diese Symptome haben die zentrale Rolle übernommen, die die Verdrängung der Sexualität zur Zeit Freuds innehatte. Die psychoanalytische Theorie muß deshalb so gefaßt werden, daß sie die unbewußten Aspekte dieser Symptome und ihre krankmachenden Bedingungen in Gesellschaft und Familie verständlich macht. Darüber hinaus muß die Psychoanalyse die "Pathologie der Normalität" erforschen, jene chronische, leichte Schizophrenie, die von der kybernetisch organisierten, technologischen Gesellschaft von heute und morgen erzeugt wird. Die Triebe können regressiv, archaisch und selbst-destruktiv sein, oder sie können dem Menschen zu seiner vollen Entfaltung verhelfen und eine Einheit mit der Welt unter der Bedingung von Freiheit und Integrität herstellen. In diesem günstigen Fall sind seine das Überleben transzendierenden Bedürfnisse keine Ausgeburt von Unlust und "Mangel", sondern das Ergebnis seines Reichtums an Möglichkeiten, die ihn leidenschaftlich danach streben lassen, sich in die Objekte, die ihnen entsprechen, zu ergießen: Ein solcher Mensch wünscht zu lieben, weil er ein Herz hat; er denkt gerne, weil er ein Gehirn hat; er möchte berühren, weil er eine Haut hat.

Der vorliegende Band enthält die von Fromm zwischen 1968 und 1970 verfaßten und bisher nicht publizierten Teile seiner humanistischen und dialektischen Revision der Psychoanalyse. Das größte zusammenhängende Manuskript trägt denn auch den Titel "Die dialektische Revision der Psychoanalyse". Fromm entwickelt darin seine Methode der "Psychoanalyse von Theorien ", mit der er die Theorien von Freud revidiert. Besonders ausführlich beschäftigt sich Fromm mit der Bedeutung, die das gesellschaftliche Verdrängte für die Neubestimmung des Unbewußten hat. Auch enthält das Kapitel wichtige Ausführungen über Fromms Ansichten zur therapeutischen Praxis. Erstmals spricht hier Fromm auch von der transtherapeutischen Psychoanalyse, die er 1975 in Vom Haben zum Sein (E. Fromm, 1989) weiter ausführte.

Sexualität und Konsumgesellschaft

Eine Analyse der sozialpsychologischen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre zeigt das Vorhandensein von zwei völlig verschiedenen Trends. Der bemerkenswertere ist das Wachstum der Konsumhaltung. Im 19. Jahrhundert verlangten die ökonomischen Bedürfnisse der Kapitalanhäufung vom Mitglied der Mittelklasse, daß es einen Charakter entwickelte, dem Sparen und Anhäufen ein inneres Bedürfnis wurden, dessen Erfüllung es befriedigte. Die durch die Erfordernisse der Massenproduktion gekennzeichnete kybernetische Gesellschaft zu Beginn der zweiten industriellen Revolution verlangt einen Menschen, der seine Befriedigung im Ausgeben und Konsumieren findet. Der Mensch wird zu einem geschäftigen, aber innerlich passiven homo consumens verwandelt. Aldous Huxley hat das Motto dieses neuen Typus von Mensch in seinem Buch Schöne neue Welt (1946) treffend ausgedrückt: "Schiebe nie das Vergnügen, das du heute haben kannst, auf morgen auf."

Es ist wichtig, den modernen Konsum als eine Haltung oder, genauer gesagt, als einen Charakterzug anzusehen. Dabei kommt es nicht darauf an, was konsumiert wird: Man kann Essen, Trinken, Fernsehen, Bücher, Zigaretten, Gemälde, Musik oder Sexualität konsumieren. Die Welt in ihrem Reichtum ist zu einem Gegenstand des Konsums umgewandelt. Im Akt des Konsumierens saugt der Mensch gierig am Gegenstand seines Konsums und wird zugleich von diesem aufgesaugt. Die Gegenstände des Konsums verlieren ihre konkrete Qualität, denn sie werden nicht auf Grund von spezifischen und realen menschlichen Fähigkeiten begehrt, sondern auf Grund des einen allmächtigen Verlangens: von der Gier zu haben und zu gebrauchen. Die Konsumhaltung ist die entfremdete Weise, mit der Welt in Kontakt zu sein, weil die Welt zu einem Gegenstand der Gier gemacht wird, statt daß der Mensch an ihr interessiert und auf sie bezogen ist.

Ein Wirtschaftssystem, das die Konsumhaltung als Gesellschafts-Charakterzug braucht, kann kaum an einer viktorianischen Moral festhalten. Man kann keine Konsum-Sucht hervorbringen und gleichzeitig die Menschen zum Horten und zur Verdrängung ihrer immer (tatsächlich oder potentiell) gegenwärtigen sexuellen Wünsche anhalten. Auch für den sexuellen Konsum gilt, was für jede Konsumhaltung charakteristisch ist: Sie ist flach, unpersönlich, ohne Leidenschaftlichkeit, ereignislos, passiv. Im Unterschied zu anderen Formen der Konsumhaltung hat sie den Vorteil, daß sie praktisch kostenlos ist und die Arbeitsfähigkeit des Menschen nicht beeinträchtigt. Sie macht Lust und hilft, die Sorgen und Schmerzen des Alltags zu vergessen. (Der Vorteil, daß sie praktisch kostenlos ist, wäre eigentlich für eine Gesellschaft von Nachteil, in der alles darauf ankommt, daß jeder so viel wie möglich kauft, vorausgesetzt, es würden weniger Waren gekauft, weil man mit dem sexuellen Konsum beschäftigt ist. Doch dies ist nicht so, denn erstens stimuliert der sexuelle Konsum das Bedürfnis nach Konsum überhaupt und hilft deshalb, das notwendige Maß an Gier hervorzubringen; zweitens stimmt es zwar, daß der Sexualverkehr, abgesehen von empfängnisverhütenden Mitteln, keinerlei Geldaufwand verlangt, doch führt er indirekt auf anderen Ebenen zu mehr Konsum: Man braucht mehr Geld für Reisen, Kosmetika, Kleider und all die anderen Waren und Dienstleistungen, die zu einer größeren sexuellen Attraktivität verhelfen sollen.)

Eine auf Konsum ausgerichtete Kultur muß unter diesen Umständen auf sexueller Freiheit bestehen, selbst wenn dies wie in unserer Kultur zu einer bemerkenswerten Meisterschaft in doppelzüngigem Gerede und zu einer strikten Isolierung von offizieller Ideologie und sanktionierter Praxis führt. ...

Die gesellschaftliche Bedingtheit des Sadismus

Bei den Erscheinungsweisen des Sadismus gibt es Unterschiede, je nachdem, ob jemand auch real Macht hat oder machtlos ist. Der durchschnittliche Mensch ist relativ machtlos: Der Sklave mehr als der Leibeigene, der Leibeigene mehr als der Bürger, der Arbeiter des 19. Jahrhunderts mehr als der Arbeiter des 20. Jahrhunderts, der Einwohner eines diktatorischen Polizeistaates mehr als der eines demokratischen Landes. Doch durchweg alle sind abhängig von Umständen, für die sie nichts können, und von Menschen, die nicht Personen ihrer Wahl sind. (Dies gilt auch für die Demokratie, weil die Menschen die Volksvertreter gar nicht kennen und sie unter dem Einfluß massivster Gehirnwäsche durch die "Kommunikations"-Mittel "gewählt" haben.) Sobald ein Mensch ein wenig Macht hat und vor allem dann, wenn er seine Wirkmacht in bedeutsame Handlungen umsetzen kann, reduziert sich sein Gefühl der Machtlosigkeit auf ein erträgliches Maß. Deshalb beobachten wir in den kulturell und ökonomisch höherstehenden gesellschaftlichen Schichten weniger Sadismus als in den unteren Schichten, wie etwa im Kleinbürgertum. (Das Kleinbürgertum in Deutschland war deshalb auch der Nährboden, auf dem der Nazismus wachsen konnte, wie ich in Die Furcht vor der Freiheit (E. Fromm, 1941a, GA 1, S. 338-356) gezeigt habe.)

Jemand, der kulturell wie materiell nur wenig reale Befriedigung im Leben findet und der nur wenig mehr als das hilflose Objekt höherer Mächte ist, der leidet sehr an seiner Machtlosigkeit. Für ihn ist die sadistische Lösung die einzige Weise, in der er seine Ohnmacht transzendieren kann. Sie ist die einzige Form persönlicher Befreiung, es sei denn, er kann an der konstruktiven Veränderung seiner Umstände teilhaben, was jedoch durch seinen Sadismus erschwert wird. Das armseligste menschliche Wesen, das sich wie eine Null fühlt und auch eine Null ist, kann sich wie ein König fühlen, wenn es als Teil eines lynchenden Mobs sein Opfer ängstigen, demütigen und schließlich töten kann. Ebenso fühlt sich der letzte Soldat einer erobernden Armee wie ein Gott, wenn er in der Ekstase des Vergewaltigens und Plünderns seine eigene gesellschaftliche und menschliche Daseinsweise transzendiert.

Am anderen Ende der Skala sadistischer Menschen sind die Menschen, die in der Realität so viel Macht haben, daß sie versucht sind, ihren menschlichen Status zu transzendieren und Gott werden zu wollen. Politische Führer, die mit so viel absoluter Macht ausgestattet sind wie Stalin und Hitler, erliegen fast zwangsläufig der Versuchung der absoluten Macht, wie Albert Camus in seinem Stück Caligula großartig gezeigt hat. Das Amt gibt Caligula die Macht über alle: über die Körper, die Seelen, die Ehre, das Schamgefühl. Wer die Erfahrung solch uneingeschränkter Macht macht, hält die Ohnmacht, die er noch immer fühlt, nicht mehr aus. Er muß dann durch seine Machtausübung alle menschlichen Bindungen zerstören und befindet sich in einem Zustand unerträglicher Isolation. Nur noch die Phantasie seiner Omnipotenz, seines Gottseins, kann ihn von diesem Schmerz retten. Er kann fast nicht mehr anders als das Unmögliche zu wollen: Er will den Mond. Jetzt wird er verrückt. Aber seine Verrücktheit ist keine "Krankheit"; sie ist seine Art zu leben, seine private Religion.

Sadismus gibt es nicht nur im Kleinbürgertum und unter Diktatoren; er findet sich bei vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen und in vielen Situationen des Privatlebens, und zwar immer dann, wenn jemand die Chance hat, die Rolle des Diktators zu spielen: Ein Vater (gegenüber seinen Kindern), ein Mann (gegenüber seiner Frau), ein Schullehrer, ein Gefängniswärter, ein Polizist, ein Arzt, eine Krankenschwester, ein Offizier usw. Es fällt auf, daß bei vielen dieser Fälle die tatsächliche Macht gar nicht groß ist; es kommt nur darauf an, daß die reale Macht eines Menschen groß genug ist, um ihm die Phantasie zu erlauben, absolute Macht zu haben.

Da diese Situationen höchstens das Manifestwerden des Sadismus erleichtern, bleibt die Möglichkeit bestehen, daß seine Wurzeln bei Menschen zu suchen sind, die nicht aus sozio-ökonomischen Gründen geschwächt sind. Wenigstens eine Bemerkung möchte ich hierzu machen: Die gleichen Bedingungen faktischer Machtlosigkeit können auch durch eine Familienatmosphäre hervorgebracht werden, bei der das heranwachsende Kind der sadistischen Behandlung durch seine Eltern ausgesetzt ist, und zwar besonders in den weniger auffälligen Formen, wo sein Wille und seine Spontaneität gebrochen werden, sei es direkt oder durch das Fehlen von Spiegelung oder durch Drohungen. ...

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort von Rainer Funk
I. Über meinen psychoanalytischen Ansatz
II. Die dialektische Revision der Psychoanalyse
1. Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse
2. Gegenstand und Methode der Revision der Psychoanalyse
3. Aspekte einer revidierenden Triebtheorie
4. Die Revision der Theorie des Unbewußten und der Verdrängung
a) Das Unbewußte und die Verdrängung der Sexualität
b) Das Unbewußte und die Verdrängung der Mutterbindung
c) Die Bindung an Idole als Ausdruck des gesellschaftlichen Unbewußten
d) Die Bindung an Idole und das Phänomen der Übertragung
e) Die Überwindung der Bindung an Idole
f) Das gesellschaftlich Verdrängte und seine Bedeutung für eine Revision des Unbewußten
g) Das neue Verständnis des Unbewußten bei Ronald D. Laing
h) Wirkfaktoren bei der Aufhebung der Verdrängung
5. Die Bedeutung von Gesellschaft, Sexualität und Körper in einer revidierten Psychoanalyse
6. Zur Revision der psychoanalytischen Therapie
a) Aspekte für den Bereich der therapeutischen Praxis
b) Transtherapeutische Aspekte der Psychoanalyse
III. Sexualität und sexuelle Perversionen
1. Aspekte der sexuellen Befreiungsbewegung
a) Sexualität und Konsumgesellschaft
b) Sexualität und neuer Lebensstil – zur Bewegung der Hippies
c) Sexualität in der Psychoanalyse – Die Bedeutung Wilhelm Reichs
2. Die sexuellen Perversionen und ihre Wertung
a) Der Wandel in der Wertung der sexuellen Perversionen
b) Die psychoanalytische Wertung der Perversionen
c) Das perverse Erleben beim Sadismus und beim analen Charakter
3. Zur Revision der Perversionen am Beispiel des Sadismus
a) Erscheinungsweisen und Wesen des Sadismus
b) Die gesellschaftliche Bedingtheit des Sadismus
c) Sadismus und Nekrophilie
IV. Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse
1. Marcuses Freudrezeption
2. Marcuses Verständnis der Perversionen
3. Marcuses Idealisierung der Hoffnungslosigkeit
Literaturverzeichnis

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