Auszüge aus Erich Fromm's
"Anatomie der menschlichen Destruktivität"

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Diese Untersuchung ist der erste Band einer umfassenden Arbeit über die psychoanalytische Theorie. Ich habe mit der Untersuchung der Aggression und Destruktivität nicht nur deshalb angefangen, weil sie zu den grundlegenden theoretischen Problemen der Psychoanalyse gehört, sondern weil die Welle der Destruktivität, die die Welt überschwemmt, diese Untersuchung auch auf praktischem Gebiet höchst bedeutungsvoll erscheinen läßt. ...

Die Aggression in der Gefangenschaft

Beim Studium der Aggression unter Tieren und besonders unter den Primaten ist es wichtig, daß man von Anfang an unterscheidet zwischen ihrem Verhalten in ihrem eigenen Habitat und ihrem Verhalten in der Gefangenschaft, das heißt im wesentlichen im zoologischen Garten. Beobachtungen zeigen, daß die Primaten in der freien Natur wenig aggressiv sind, während bei Primaten im Zoo gelegentlich ein äußerst destruktives Verhalten zu beobachten ist.

Diese Unterscheidung ist von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der menschlichen Aggression, weil der Mensch im Verlauf seiner Geschichte bis heute kaum jemals in seinem "natürlichen Habitat" gelebt hat, mit Ausnahme der Jäger und Sammler und der ersten Ackerbauer bis zum fünften Jahrtausend v. Chr. Der "zivilisierte" Mensch hat immer im "Zoo" gelebt – das heißt in einer nur gradmäßig unterschiedenen Gefangenschaft und Unfreiheit – , und dies gilt auch heute noch selbst für die fortgeschrittensten Gesellschaftssysteme.

Ich möchte mit einigen Beispielen von Primaten im Zoo beginnen, die man bereits gründlich untersucht hat. Die am besten erforschten sind vielleicht die Mantelpaviane, die Solly Zuckerman im Londoner Zoo im Regents Park (auf dem "Affenberg") 1929-1930 studierte. Ihr Gehege, 30 m lang und 18 m breit, war für einen Zoo groß, aber verglichen mit dem natürlichen Umfang ihres Habitats äußerst klein. Zuckerman konnte unter diesen Tieren sehr starke Spannungen und Aggressionen beobachten. Die stärkeren Tiere unterdrückten die schwächeren brutal und erbarmungslos, und selbst die Mütter nahmen ihren Jungen das Futter weg. Die Hauptleidtragenden waren die Weibchen und die Jungen, die gelegentlich bei Kämpfen verletzt oder sogar versehentlich getötet wurden. Zuckerman beobachtete, wie ein Männchen ein Junges zweimal absichtlich angriff, wonach man das Junge abends tot wiederfand. Acht von 61 Männchen starben eines gewaltsamen Todes, und viele andere gingen durch Krankheit ein (S. Zuckerman, 1932). Auch von anderen Forschern wurde das Verhalten von Primaten im Zoo studiert, so von Hans Kummer (1951) in Zürich und von Vernon Reynolds (1961) im Whipsnade Park in England. Kummer hielt die Paviane in einem 14 auf 25 m großen Gehege. Dort waren ernsthafte Beißereien, die zu bösen Wunden führten, an der Tagesordnung. Kummer stellte detaillierte Vergleiche zwischen den Tieren im Züricher Zoo und Tieren in der freien Wildnis an, die er in Äthiopien studierte, und er hat festgestellt, daß aggressive Handlungen im Zoo bei den Weibchen neunmal und bei den erwachsenen Männchen siebzehneinhalbmal häufiger vorkamen als bei den wild lebenden Horden. Vernon Reynolds studierte vierundzwanzig Rhesusaffen in einem achteckigen Gehege, dessen Seiten nur ca. 9 m lang waren. Obwohl der den Tieren zur Verfügung stehende Raum noch kleiner war als der auf dem Monkey Hill, waren die zu beobachtenden Aggressionen doch nicht so heftig. Trotzdem kam es auch hier häufiger zu Gewalttätigkeiten als in der Wildnis. Viele Tiere wurden verwundet – ein Weibchen so schwer, daß es erschossen werden mußte. Von besonderem Interesse hinsichtlich des Einflusses der ökologischen Bedingungen auf die Aggression sind verschiedene Studien über Rhesusaffen (Macaca mulata), besonders die von C. H. Southwick (1964) und von C. H. Southwick, M. Beg und M. Siddiqi (1965). Southwick stellte fest, daß Umwelteinflüsse und soziale Bedingungen bei gefangenen Rhesusaffen stets einen beträchtlichen Einfluß auf die Form und Häufigkeit eines "agonistischen" Verhaltens (d.h. eines Verhaltens als Reaktion auf Konflikte) haben. Seine Untersuchung ermöglicht uns, zwischen Umweltveränderungen, das heißt Veränderungen bezüglich der Zahl der Tiere in einem bestimmten Bereich, und sozialen Veränderungen, das heißt Eingliederung neuer Tiere in eine bereits bestehende Gruppe, zu unterscheiden. Er kommt zu dem Ergebnis, daß eine Verkleinerung des Lebensraums eine verstärkte Aggression zur Folge hat, daß jedoch Veränderungen in der sozialen Struktur durch die Eingliederung neuer Tiere "eine weit drastischere Vergrößerung der aggressiven Interaktion bewirkten als Umweltveränderungen" (C. H. Southwick, 1964).

Auch bei vielen anderen Säugetieren hat man beobachtet, daß eine Verkleinerung des Lebensraumes zu aggressiverem Verhalten führte. L. H. Matthews berichtet, daß ihm aus der einschlägigen Literatur und von eigenen Beobachtungen im Londoner Zoo kein einziger Fall bekannt wurde, in dem Säugetiere bis zum Tod des Gegners kämpften, außer wenn die Tiere zu eng aufeinander lebten (L. H. Matthews, 1963). Paul Leyhausen, ein hervorragender Tierverhaltensforscher, hat darauf hingewiesen, daß bei Katzen die Hierarchie durcheinandergerät, wenn die Tiere auf zu engem Raum zusammengepfercht werden. Je dichter die Käfige besetzt sind, um so weniger existiert eine relative Hierarchie. Schließlich taucht ein Despot auf, "Parias" treten in Erscheinung und werden durch die ständigen brutalen Angriffe aller anderen zur Raserei und allen möglichen unnatürlichen Verhaltensweisen veranlaßt. Die Gemeinschaft wird zu einem haßerfüllten Mob. Alle entspannen sich nur selten, man hat nie den Eindruck, daß sie sich wohl fühlen, und es kommt zu einem ständigen Zischen, Knurren und sogar zu Kämpfen (P. Leyhausen, 1956).

Selbst ein vorübergehendes Gedränge an bestimmten Futterplätzen hatte eine verstärkte Aggression zur Folge. Im Winter 1952 haben drei amerikanische Forscher, C. Cabot, N. Collias und R. C. Guttinger (zitiert von C. und W. M. S. Russell, 1968), in der Nähe des Flusses Flag in Wisconsin Hirsche beobachtet und festgestellt, daß die Häufigkeit der Streitigkeiten von der Zahl der Tiere in dem abgegrenzten Gehege, das heißt von der Populationsdichte, abhing. Waren nur fünf bis sieben Hirsche anwesend, wurde pro Stunde nur ein einziger Kampf beobachtet. Waren dagegen zwischen 23 und 30 Tiere da, betrug die Zahl der Kämpfe durchschnittlich 4,4 pro Tier und Stunde. Ähnliche Beobachtungen machte der amerikanische Biologe J. B. Calhoun (1948) an wildlebenden Ratten.

Wichtig ist die Beobachtung, daß das Vorhandensein von reichlich Futter bei zu engem Zusammengepferchtsein eine verstärkte Aggressivität nicht verhindert. Die Tiere im Londoner Zoo waren gut gefüttert, und trotzdem hatte die Überfüllung ihres Geheges eine verstärkte Aggressivität zur Folge. Interessant ist auch die Beobachtung von Southwick, daß selbst eine Herabsetzung der Futterration um 25 Prozent bei Rhesusaffen keine Änderung in ihren agonistischen Interaktionen bewirkte und daß eine Reduktion um die Hälfte sogar zu einer deutlichen Verminderung des agonistischen Verhaltens führte.

Aus den Untersuchungen der verstärkten Aggressivität von Primaten in Gefangenschaft – Untersuchungen von anderen Säugetieren zeigen dasselbe Resultat – scheint hervorzugehen, daß die Überfüllung die Hauptvoraussetzung für eine verstärkte Gewalttätigkeit ist. Aber "Überfüllung" ist nur ein Etikett, und noch dazu ein ziemlich irreführendes, weil es uns nichts darüber sagt, welche Faktoren bei einer solchen Überfüllung für die verstärkte Aggression verantwortlich sind. ...

System A: Lebensbejahende Gesellschaften

In diesem System sind Ideale, Sitten und Institutionen vor allem darauf ausgerichtet, daß sie der Erhaltung und dem Wachstum des Lebens in allen seinen Formen dienen. Feindseligkeiten, Gewalttätigkeiten und Grausamkeiten sind in der Bevölkerung nur in minimalem Ausmaß zu finden, es gibt keine harten Strafen, kaum Verbrechen, und der Krieg als Institution fehlt ganz oder spielt nur eine äußerst geringe Rolle. Die Kinder werden freundlich behandelt, schwere körperliche Züchtigungen gibt es nicht. Die Frauen sind den Männern in der Regel gleichgestellt, oder sie werden wenigstens nicht ausgebeutet oder gedemütigt. Die Einstellung zur Sexualität ist ganz allgemein tolerant und bejahend. Man findet wenig Neid, Geiz, Habgier und Ausbeutung. Es gibt auch kaum Rivalität oder Individualismus, aber sehr viel Kooperation. Persönliches Eigentum gibt es nur in bezug auf Gebrauchsgegenstände. In der allgemeinen Haltung kommt Vertrauen und gläubige Zuversicht zum Ausdruck, und dies nicht nur den anderen gegenüber, sondern besonders auch gegenüber der Natur; ganz allgemein herrscht gute Laune, und depressive Stimmungen sind relativ selten.
Zu den Gesellschaften, die unter diese lebensbejahende Kategorie fallen, habe ich die Zuñi-Pueblo-Indianer die Berg-Arapeshen und die Batonga, die Aranda, die Semang, die Toda, die Polar-Eskimos und die Mbutu gerechnet.

Man findet in der A-System-Gruppe sowohl Jäger (z. B. die Mbutu) als auch Ackerbauer und Schafzüchter (wie die Zuñi). Es gehören Gesellschaften mit relativ reichlicher Nahrungsversorgung dazu, und andere, bei denen relative Knappheit vorherrscht. Dies soll jedoch keineswegs besagen, daß Charakterunterschiede nicht von Unterschieden in der sozioökonomischen Struktur der betreffenden Gesellschaften abhängig oder weitgehend davon beeinflußt sind. Es ist lediglich ein Hinweis darauf, daß einfache und augenfällige ökonomische Faktoren wie Armut oder Reichtum, Jagd oder Ackerbau usw. nicht ausreichen, um die Charakterentwicklung zu erklären. Um den Zusammenhang zwischen Ökonomie und Sozialcharakter zu verstehen, müßte man die sozioökonomische Gesamtstruktur jeder Gesellschaft untersuchen.

System B: Nichtdestruktiv-aggressive Gesellschaften

Dieses System hat mit dem ersteren das Grundelement gemeinsam, nicht destruktiv zu sein, jedoch unterscheidet es sich von ihm insofern, als Aggressivität und Krieg zwar keine zentrale Bedeutung haben, aber doch normale Vorkommnisse sind und daß Rivalität, Hierarchie und Individualismus regelmäßig anzutreffen sind. Diese Gesellschaften sind keineswegs von Destruktivität oder Grausamkeit oder von übertriebenem Argwohn durchdrungen, aber es herrscht in ihnen auch nicht die Freundlichkeit und das Zutrauen, welche für die Gesellschaften des Systems A kennzeichnend sind. Man könnte das System B vielleicht am besten so kennzeichnen, daß man sagt, es sei vom Geist männlicher Aggressivität, vom Individualismus und vom Wunsch durchdrungen, sich Dinge zu verschaffen und Aufgaben zu erfüllen. In meiner Analyse fallen folgende vierzehn Stämme unter diese Kategorie: die Grönland-Eskimos, die Bachiga, die Ojibwa, die Ifugao, die Manus, die Samoaner, die Dakota, die Maori, die Tasmanier, die Kazaks, die Aino, die Krähenindianer, die Inka und die Hottentotten.

System C: Destruktive Gesellschaften

Die Gesellschaften vom System C haben eine sehr ausgeprägte Struktur. Diese ist gekennzeichnet durch interpersonale Gewalttätigkeit, Zerstörungslust, Aggression und Grausamkeit, sowohl innerhalb des Stammes als auch anderen gegenüber, durch Freude am Krieg, Heimtücke und Verrat. Die Gesamtatmosphäre ist erfüllt von Feindseligkeit, Spannungen und Angst. Gewöhnlich herrscht ein starkes Maß von Rivalität, das Privateigentum spielt eine wichtige Rolle (wenn nicht in bezug auf materielle Dinge, dann in bezug auf Symbole), es herrscht eine strenge Hierarchie, und Kriege sind häufig. Stämme, die zu diesem System zu rechnen sind, sind die Dobu und die Kwakiutl, die Haida, die Azteken, die Witoto und die Ganda.

Ich bin mir bewußt, daß man Einwände gegen meine Klassifizierung der jeweiligen Gesellschaft in eine dieser Kategorien erheben könnte. Aber ob man mit der Klassifizierung dieser oder jener Gesellschaft einverstanden ist oder nicht, spielt keine allzu große Rolle, da es mir nicht um statistische, sondern um qualitative Feststellungen geht. Der Hauptunterschied besteht zwischen System A und B einerseits, die beide lebensbejahend sind, und System C andererseits, das seinem Wesen nach grausam oder destruktiv, das heißt sadistisch oder nekrophil ist. ...

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Hinweise auf Destruktivität und Grausamkeit

Die anthropologischen Daten haben gezeigt, daß die instinktivistische Interpretation des menschlichen Zerstörungstriebs nicht haltbar ist. Während wir in allen Kulturen die Feststellung machen, daß die Menschen sich gegen eine Bedrohung ihres Lebens verteidigen, indem sie kämpfen (oder fliehen), sind Zerstörungswut und Grausamkeit in so vielen Gesellschaften so minimal, daß diese großen Unterschiede nicht zu erklären wären, wenn wir es mit einer "angeborenen" Leidenschaft zu tun hätten. Überdies spricht die Tatsache, daß die am wenigsten zivilisierten Gesellschaften wie die Jäger und Sammler und die frühen Ackerbauern weniger Destruktivität bekunden als die weiterentwickelten Gesellschaften, gegen die Auffassung, daß die Destruktivität zur menschlichen "Natur" gehört. Schließlich spricht auch die Tatsache, daß es sich bei der Destruktivität nicht um einen isolierten Faktor, sondern – wie wir sahen – um den Bestandteil eines Charaktersyndroms handelt, gegen die instinktivistische These.

Daß Destruktivität und Grausamkeit nicht wesensmäßig zur menschlichen Natur gehören, besagt freilich nicht, daß sie nicht intensiv und weit verbreitet wären. Dies bedarf keines Beweises. Viele Forscher, die sich mit den primitiven Gesellschaften beschäftigt haben, haben dies aufgezeigt, wobei man sich jedoch vor Augen halten sollte, daß diese Daten sich auf weiter fortgeschrittene – oder entartete – primitive Gesellschaften und nicht auf die primitivsten unter ihnen – nämlich die Jäger und Sammler – beziehen. Wir waren – und sind noch – selbst Zeugen solcher Akte einer hemmungslosen Zerstörungswut und Grausamkeit, so daß wir uns nicht um historische Beweise zu bemühen brauchen. ...

Bösartige Aggression: Adolf Hitler, ein klinischer Fall von Nekrophilie

Eine analytische, psychobiographische Studie versucht zwei Fragen zu beantworten:

1.  Welche Triebkräfte bestimmen einen Menschen, welche Leidenschaften zwingen ihn oder machen ihn geneigt, sich so zu verhalten wie er es tut?

2.  Welche inneren und äußeren Bedingungen sind für die Entwicklung gerade dieser Leidenschaften (Charakterzüge) verantwortlich?

Auf die Beantwortung dieser Fragen zielt auch die folgende Analyse Hitlers ab, doch unterscheidet sie sich in bestimmten wesentlichen Punkten von der klassischen Freudschen Methode.
Ein Unterschied, der bereits besprochen wurde, so daß wir hier nur kurz daran zu erinnern brauchen, liegt darin, daß diese Leidenschaften im wesentlichen nicht instinktiver oder – genauer gesagt – sexueller Natur sind. Ein weiterer Unterschied liegt in der Annahme, daß wir uns selbst dann, wenn wir von der Kindheit des Betreffenden nichts wissen, mit Hilfe von Traumanalysen, aufgrund unbeabsichtigter Handlungen, Gesten und Äußerungen, sowie anhand von Verhaltensweisen, die rational nicht ganz zu erklären sind, ein Bild von seinen wesentlichen und großenteils unbewußten Leidenschaften machen können ("Röntgenmethode"). Die Interpretation derartiger Daten erfordert die spezielle Ausbildung und Erfahrung in der Psychoanalyse.

Der wichtigste Unterschied ist jedoch folgender: Die klassischen Psychoanalytiker gehen davon aus, daß die Charakterentwicklung im Alter von etwa fünf oder sechs Jahren abgeschlossen ist und daß später keine wesentlichen Veränderungen auftreten (außer durch den Eingriff einer therapeutischen Behandlung). Meine eigene Erfahrung hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß diese Auffassung unhaltbar ist. Sie ist mechanistisch und übersieht, daß es sich beim gesamten Lebens- und Charakterprozeß um ein sich entwickelndes System handelt.

Wenn ein Mensch geboren wird, kommt er keineswegs ohne "Gesicht" auf die Welt. Er wird nicht nur mit genetisch determinierten Anlagen hinsichtlich seines Temperaments und anderer ererbter Dispositionen geboren, welche die Ausbildung gewisser Charakterzüge vor anderen begünstigen, auch vorgeburtliche Ereignisse und die Geburt selbst bewirken zusätzliche Dispositionen. All dies formt sozusagen das "Gesicht" des Betreffenden bei seiner Geburt. Dann kommt er mit einer speziellen Umwelt – seinen Eltern und anderen signifikanten Personen seiner Umgebung – in Kontakt und reagiert darauf, was seine weitere Charakterentwicklung beeinflußt. Mit achtzehn Monaten ist der Charakter des Kindes weit definitiver geformt und determiniert, als er es bei seiner Geburt war. Trotzdem ist er noch nicht endgültig fertig, und seine Entwicklung kann je nach den auf ihn ausgeübten Einflüssen in verschiedenen Richtungen erfolgen. Im Alter von sechs Jahren etwa ist der Charakter noch stärker determiniert und festgelegt, doch verliert er damit nicht die Fähigkeit sich zu ändern, vorausgesetzt, daß neue signifikante Umstände eintreten, die eine solche Veränderung veranlassen. Allgemeiner gesagt ist die Charakterbildung und -fixierung als eine gleitende Skala anzusehen. Der Mensch bringt gewisse Eigenschaften mit auf die Welt, die ihn für eine bestimmte Entwicklung disponieren, doch ist seine Persönlichkeit noch so formbar, daß sich der Charakter innerhalb eines gegebenen Rahmens in vielen verschiedenen Richtungen entwickeln kann. Jeder Schritt im Leben schränkt die Zahl zukünftiger möglicher Entwicklungen weiter ein. Je mehr ein Charakter fixiert ist, um so stärker muß der Eindruck der neuen Faktoren sein, wenn sie fundamentale Richtungsänderungen in der weiteren Entwicklung des Systems bewirken sollen. Schließlich wird dann die noch verbleibende Möglichkeit zu einer Änderung so minimal, daß nur noch ein Wunder eine Wandlung herbeiführen könnte.

Dies besagt nicht, daß Einflüsse aus der frühen Kindheit nicht in der Regel eine stärkere Wirkung ausüben als die späteren Erlebnisse. Aber wenn sie auch die Richtung beeinflussen, so determinieren sie eine Person doch nicht völlig. Um die größere Eindrucksfähigkeit der frühen Kindheit zu kompensieren, müssen die späteren Erlebnisse intensiver und dramatischer sein. Der Eindruck, daß sich ein Charakter niemals ändert, gründet sich weitgehend auf die Tatsache, daß das Leben der meisten Menschen so vorfabriziert und unspontan ist, daß nie etwas wirklich Neues geschieht und die späteren Erlebnisse nur die früheren bestätigen.

Die Häufigkeit realer Möglichkeiten, daß ein Charakter sich in anderen Richtungen entwickelt, steht im umgekehrten Verhältnis zur Starrheit, die das Charaktersystem angenommen hat. Aber das Charaktersystem ist grundsätzlich nie so völlig fixiert, daß neue Entwicklungen als Folge außergewöhnlicher Erlebnisse nicht eintreten könnten, wenn auch die statistische Wahrscheinlichkeit gering ist.

Praktisch gesehen laufen diese theoretischen Erwägungen darauf hinaus, daß man nicht erwarten kann, daß ein Charakter, wie er, sagen wir, mit zwanzig Jahren ist, genau der gleiche ist wie mit fünf; bei Hitler zum Beispiel können wir nicht annehmen, bei ihm schon in seiner Kindheit einen voll entwickelten nekrophilen Charakter anzutreffen, aber es steht zu vermuten, daß schon damals gewisse nekrophile Ansätze vorhanden waren, die dann – als eine unter mehreren realen Möglichkeiten – zur Entwicklung eines ausgewachsenen nekrophilen Charakters geführt haben. Aber erst wenn eine große Zahl innerer und äußerer Ereignisse zusammenkommen, wird sich das Charaktersystem so entwickeln, daß schließlich die Nekrophilie als ein (fast) nicht mehr zu veränderndes Endergebnis entsteht, und wir können sie dann in verschiedenen, sowohl offenliegenden wie versteckten Formen erkennen. Ich will nun versuchen, diese frühen Ansätze in einer Analyse von Hitlers Charakter aufzuzeigen und darzulegen, wie sich die Voraussetzungen zur Entwicklung der Nekrophilie in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien immer mehr verstärkten, bis schließlich kaum noch eine andere Möglichkeit blieb. ...

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Terminologie
Einleitung: Die Instinkte und die menschlichen Leidenschaften
Erster Teil: Instiktivismus, Behaviorismus, Psychoanalyse
1 Instinkt- und Trieblehren
Ältere Instinkt- und Triebforscher
Neuere Instinkt- und Triebforscher: Sigmund Freud und Konrad Lorenz
Freuds Aggressionsbegriff
Die Aggressionstheorie von Konrad Lorenz
Freud und Lorenz: Ähnlichkeiten und Unterschiede
»Beweis« durch Analogie
Schlußfolgerungen über den Krieg
Die Vergötzung der Evolution
2 Die Vertreter der Milieutheorie und die Behavioristen
Die Milieutheorie der Aufklärung
Der Behaviorismus
B. F. Skinners Neobehaviorismus
Ziele und Werte
Die Gründe für Skinners Popularität
Behaviorismus und Aggression
Über psychologische Experimente
Die Frustrations-Aggressions-Theorie
3 Triebtheorien und Behaviorismus: ihre Unterschiede und Ähnlichkeiten
Gemeinsamkeiten
Neuere Auffassungen
Der politische und soziale Hintergrund beider Theorien
4 Der psychoanalytische Weg zum Verständnis der Aggression
Zusammenfassung
Zweiter Teil: Befunde, die gegen die Thesen der Instinkt- und Triebforscher sprechen
5 Neurophysiologie
Die Beziehung zwischen Psychologie und Neurophysiologie
Das Gehirn als Grundlage für aggressives Verhalten
Die Defensivfunktion der Aggression
Der »Flucht«-Instinkt
Das Verhalten von Raubtieren und die Aggression
6 Das Verhalten der Tiere
Die Aggresion in der Gefangenschaft
Menschliche Aggression und Übervölkerung
Die Aggression in der freien Natur
Territorialismus und Dominanz
Die Aggressivität anderer Säugetiere
Besitzt der Mensch eine Hemmung zu töten?
7 Paläontologie
Ist der Mensch eine Art?
Ist der Mensch ein Raubtier?
8 Anthropologie
»Der Mensch als Jäger« – Der anthropologische Adam?
Die Aggression und die primitiven Jäger
Primitive Jäger – die Wohlstandsgesellschaft?
Die Kriegführung der Primitiven
Die neolithische Revolution
Prähistorische Gesellschaften und die »menschliche Natur«
Die städtische Revolution
Die Aggressivität in primitiven Kulturen
Analyse von dreißig primitiven Stämmen
System A: Lebensbejahende Gesellschaften
System B: Nichtdestruktiv-aggressive Gesellschaften
System C: Destruktive Gesellschaften
Beispiele für die drei Systeme
Hinweise auf Destruktivität und Grausamkeit
Dritter Teil: Die verschiedenen Arten der Aggression und Destruktivität und ihre jeweiligen Voraussetzungen
9 Die gutartige Aggression
Vorbemerkungen
Die Pseudoaggression
Die unbeabsichtigte Aggression
Die spielerische Aggression
Aggression als Selbstbehauptung
Die defensive Aggression
Der Unterschied zwischen Mensch und Tier
Aggression und Freiheit
Aggression und Narzißmus
Aggression und Widerstand
Die konformistische Aggression
Die instrumentale Aggression
Über die Ursachen des Krieges
Die Bedingungen für die Reduzierung der defensiven Aggression
10 Die bösartige Aggression: Prämissen
Vorbemerkungen
Die Natur des Menschen
Die existenziellen Bedürfnisse des Menschen und die verschiedenen in seinem Charakter verwurzelten Leidenschaften
Orientierung und Devotion
Verwurzelung
Einheit
Das Bestreben, etwas zu bewirken
Erregung und Stimulation
Langeweile und chronische Depression
Die Charakterstruktur
Die Voraussetzungen für die Entwicklung der charakterbedingten Leidenschaften
Die neurophysiologischen Voraussetzungen
Die sozialen Bedingungen
Über die Rationalität und Irrationalität der Instinkte und Leidenschaften
Die psychische Funktion der Leidenschaften
11 Die bösartige Aggression: Grausamkeit und Destruktivität
Scheinbare Destruktivität
Spontane Formen
Geschichtlicher Überblick
Rachsüchtige Destruktivität
Ekstatische Destruktivität
Die Anbetung der Destruktivität
Kern, von Salomon – ein klinischer Fall des Götzendienstes an der Zerstörung
Der destruktive Charakter: Sadismus
Beispiele für den sexuellen Sadismus und Masochismus
Jossif Stalin, ein klinischer Fall von nichtsexuellem Sadismus
Das Wesen des Sadismus
Bedingungen, die Sadismus hervorrufen
Heinrich Himmler, ein klinischer Fall des anal-hortenden Sadismus
Zusammenfassung
12 Die bösartige Aggression: die Nekrophilie
Der traditionelle Begriff
Der nekrophile Charakter
Nekrophile Träume
»Unbeabsichtigte« nekrophile Handlungen
Die nekrophile Sprache
Nekrophilie und die Vergötterung der Technik
Manifest des Futurismus
Hypothesen über den Inzest und den Ödipuskomplex
Die Beziehung von Freuds Lebens- und Todestrieb zur Biophilie und Nekrophilie
Klinisch-methodologische Prinzipien
13 Bösartige Aggression: Adolf Hitler, ein klinischer Fall von Nekrophilie
Vorbemerkungen
Hitlers Eltern und frühe Kindheit
Klara Hitler
Alois Hitler
Hitlers frühe Kindheit bis zum Alter von sechs Jahren (1889-1895)
Hitlers Kindheit von sechs bis elf (1895-1900)
Voradoleszenz und Adoleszenz: 11 bis 17 Jahre (1900-1906)
Wien (1907-1913)
München
Ein Kommentar zur Methodologie
Hitlers Destruktivität
Die Verdrängung der Destruktivität
Andere Aspekte von Hitlers Persönlichkeit
Hitlers Beziehungen zu Frauen
Gaben und Talente
Die Tarnschicht
Willensdefekte und Mangel an Wirklichkeitssinn
Epilog: Über die Zwiespältigkeit der Hoffnung
Anhang: Freuds Aggressions- und Destruktionstheorie
Die Entwicklung von Freuds Aggressions- und Destruktionsbegriff
Analyse der Wandlungen von Freud: Theorie der Aggression und eine Kritik
Macht und Grenzen des Todestriebs
Kritik und Substanz der Theorie
Das Prinzip der Spannungsreduktion: die Grundlage des Lustprinzips und des Todestriebs
Fußnoten

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