Auszüge aus Erich Fromm's "Aggression und Charakter"

Ein Gespräch mit Adelbert Reif

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Die Gesprächspartner:

Erich Fromm wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Er ist einer der bedeutendsten Psychoanalytiker der Gegenwart und einer der führenden Sozialphilosophen unserer Zeit. Nach seinem Studium der Psychologie, Philosophie und Soziologie in Heidelberg und Frankfurt sowie ersten didaktischen Analysen und Studien der Psychiatrie und Psychologie in München begab er sich zur weiteren Ausbildung an das Psychoanalytische Institut in Berlin. 1926 wurde er praktizierender Psychoanalytiker. Neben seiner Berliner Tätigkeit lehrte er am Psychoanalytischen Institut Frankfurt am Main und gehörte zusammen mit Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Herbert Marcuse und anderen zum Kreis junger Gelehrter um Max Horkheimer am weltbekannten Institut für Sozialforschung an der Frankfurter Universität, das seine Tätigkeit nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus an der Columbia University in New York fortsetzte. Gleichzeitig arbeitete er von 1932 bis 1941 an der von Max Horkheimer herausgegebenen "Zeitschrift für Sozialforschung" mit, die zu den großen Dokumenten europäischen Geistes zählt; die meisten psychologischen Beiträge der Zeitschrift stammen von Erich Fromm. 1933 ging er an das Psychoanalytische Institut in Chicago und zog 1934 nach New York, wo er an der Columbia University Vorlesungen hielt. 1946 gründete er mit anderen das William Alonson White Institute, hielt Vorlesungen in Yale, New York University, Bermington College und der Michigan State University. 1949 nahm er eine Professur an der Nationaluniversität in Mexiko City an und wurde dort 1950 Ordinarius für Psychoanalyse. Seit 1965 widmet er sich fast ausschließlich der Forschung. Er ist ständiger Mitarbeiter der spanischen Zeitschrift "Revista de psicoanálisis y de psiquiatria" und der amerikanischen Zeitschrift "Psychiatry". Über seine wissenschaftliche Tätigkeit hinaus hat sich Erich Fromm aktiv in der Friedensbewegung engagiert; er war einer der Gründer von SANE, der wichtigsten amerikanischen Friedensbewegung, die neben ihrem Kampf gegen das atomare Wettrüsten auch führend am Kampf gegen den Vietnam-Krieg beteiligt war. In den fünfziger Jahren trat er einer sozialistischen Partei bei, trennte sich jedoch wieder von ihr. Heute gehört er – mit Ernst Bloch, André Gorz, Jürgen Habermas, Agnes Heller, Leszek Kolakowski, Henri Lefèbvre, Herbert Marcuse und David Riesman – dem internationalen Redaktionsstab der jugoslawischen Zeitschrift "Praxis" an.

Adelbert Reif wurde 1936 in Berlin geboren. Ausbildung als Zeitungsvolontär. Später Korrespondent für verschiedene Zeitungen, Redakteur und freier Journalist. Heute Verlagslektor, Herausgeber und Publizist in München. Mitarbeiter von "Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt", Hamburg; "Welt der Arbeit", Köln; "Stuttgarter Nachrichten"; "Kölner Stadt-Anzeiger"; "Spandauer Volksblatt"; "Die Presse", Wien; "Die Tat", Zürich; "National-Zeitung", Basel, und anderen Tages- und Wochenzeitungen sowie Zeitschriften im In- und Ausland.

Das Hauptproblem liegt ... darin, daß das Wort "Aggression" in einer wahllosen und indiskriminierenden Weise gebraucht wird.

Frage: Herr Professor Fromm, im Verlauf der letzten Jahre sind Tausende von Aufsätzen und Büchern veröffentlicht worden, die unter den verschiedensten Aspekten – häufig leider auch in pseudowissenschaftlicher Manier – das Problem der menschlichen Aggression behandeln. Das Erscheinen Ihres neuen umfangreichen Buches "Anatomie der menschlichen Destruktivität" hat den Diskussionen über die Natur der menschlichen Aggression, die in letzter Zeit – zumindest im deutschen Sprachraum – von Konrad Lorenz und seinen Schülern bestimmt wurden, eine andere Richtung gegeben. Sie erbringen u. a. den Nachweis, warum menschliche Destruktivität kein "angeborener Instinkt" ist, sondern vielmehr eine erworbene Charakterdeformation: eine Kulturerscheinung, kein Naturphänomen.

Fromm: Das Hauptproblem liegt – ganz allgemein gesehen – darin, daß das Wort "Aggression" in einer wahllosen und indiskriminierenden Weise gebraucht wird. Man versteht unter Aggression Dinge, die miteinander überhaupt nichts zu tun haben. Aggression wird genannt das aktive offensive Vorgehen eines Menschen im Sinne der Urbedeutung von "Aggression", abgeleitet vom lateinischen Wort "agredi", also einen Schritt vorwärts machen. Aggression wird genannt, wenn sich jemand gegen die Drohung, getötet zu werden mit einem Akt der Gewalt verteidigt, z. B. den Bedroher erschießt, um sein Leben zu retten. Aggression wird genannt, wenn jemand Freude daran hat, einen anderen zu quälen und zu kontrollieren. Aggression wird genannt, wenn jemand Lust daran hat, Menschen und Dinge zu zerstören. Aggression wird von manchen Analytikern sogar genannt, wenn der Bauer die Erde pflügt, denn der Erde wird damit etwas "angetan", sie wird im Akt des Pflügens sozusagen "angegriffen". Nun ist aber ganz klar, daß, wenn man nicht nur isoliert auf die Handlungsweise des jeweils Handelnden abzielt, der Mensch, der sich dagegen wehrt, getötet zu werden oder daß ein anderer getötet wird, und der Mensch, der ein Lustmörder ist oder der aus Lust zerstört, überhaupt nichts miteinander zu tun haben, außer dem Wort "Aggression". Es kommt also zunächst einmal darauf an, die Begriffe zu trennen. Das ist jedoch nur möglich, wenn man nicht auf die Handlung selbst als etwas Isoliertem ausgerichtet ist, sondern wenn man sie auf den handelnden Menschen bezieht.

Vielleicht kann ich das an einem kleinen Beispiel deutlich machen. Nehmen wir einmal an, zwei Väter schlagen ihre Söhne: der eine ist ein freundlicher, besorgter, liebender Vater, der andere ist ein Sadist. Der Sadist rationalisiert, wenn er ein "moralischer" Mensch ist, sein Verhalten damit, daß er vorgibt, die Schläge seien gut für das Kind. In Wirklichkeit wird er aber getrieben und motiviert von seinen sadistischen Impulsen. Die Handlung selbst ist verschieden, je nach der Motivierung, das können Sie am besten an der Reaktion des geschlagenen Kindes sehen. Für das Kind des liebenden, sich sorgenden, konstruktiven Vaters haben diese Schläge keinen großen Effekt. Sie sind nicht, was man manchmal in der Psychoanalyse ein "Trauma" nennt, das ihm nun durchs Leben nachfolgt, weil die Beziehung zum Vater durch die Schläge zerstört ist; nein, sie ist etabliert auf der Ebene des Vertrauens. Das Kind kennt den Vater und weiß, daß sich trotz der Schläge nichts an seiner liebenden Haltung zu ihm ändert. Aber bei dem anderen Vater, dem Sadisten, wenn man da genauer hinsieht, erkennt man das Glitzern in seinen Augen, den besonderen Gesichtsausdruck, die spezifische Art, wie er das Kind behandelt, selbst der Klang seiner Stimme verrät ihn. Das Kind fühlt sich durch ihn gedemütigt, geschändet, entwürdigt, und für dieses Kind ist das Schlagen tatsächlich – wenn auch nicht gerade ein Trauma – so doch ein wichtiges Symptom einer kontinuierlichen Beziehung, in der es der Vater entwürdigen und kontrollieren will.

Frage: Was verstehen Sie unter "bösartiger Aggression", und was sind ihre Ursachen?

Fromm: Um diese Frage beantworten zu können, muß ich darauf zurückgehen, daß die gutartige, also die defensive Aggression etwas ist, was man in gewisser Weise "instinktiv" nennen könnte. Nach Möglichkeit vermeide ich – wie die meisten Forscher auf diesem Gebiet – das Wort "instinktiv", weil in der Tradition der Instinkt als ein den Lern- und Umwelteinflüssen entgegengesetzter Begriff gilt. Es gibt keine Instinkte, die nicht gleichzeitig auch von der Umgebung und den Lernfaktoren beeinflußt werden. Aber hier gebrauche ich den Begriff "Instinkt" einmal ganz allgemein, denn es handelt sich um einen populären Ausdruck, unter dem sich die meisten Menschen etwas vorstellen können. Man kann sagen, die defensive Aggression ist eine Art Instinkt, der von gewissen Reizen, Stimulierungen und Faktoren unter dem Oberbegriff der "Bedrohung vitaler Interessen" ausgelöst wird. Die bösartige Aggression ist aber nicht eine Reaktion auf solche Bedrohung, das heißt: sie ist nicht neurophysiologisch als ein Komplex von Reaktionsweisen präpariert, die durch einen bestimmten Stimulus ausgelöst werden, sondern sie ist eine Frage des Charakters.

Frage: Aber was ist Charakter?

Fromm: Bekanntlich wird das Wort "Charakter" sehr verschieden gebraucht. Wenn man von einem Menschen sagt, er sei charaktervoll, dann meint man etwas Positives; man umschreibt damit, daß sich der Betreffende von irgendwelchen Prinzipien leiten läßt, daß er einheitlich handelt, daß seine Art zu reagieren sich vor allem durch Stabilität auszeichnet. Natürlich fließen in diese Interpretation auch bestimmte Moralvorstellungen mit ein, denn es wird wohl niemand einen Verbrecher, der seine verbrecherischen Handlungen konsequent begangen hat, als "charaktervoll" im oben genannten Sinne bezeichnen wollen.

Das Wort Charakter, wie ich es hier benutze, hat eine andere Bedeutung, die aus der Psychoanalyse stammt und speziell von Freud zum ersten Mal gebraucht worden ist, obwohl Sie bei Balzac oder Dostojewski Charakterbeschreibungen lesen können, die an Reichtum jene von Freud sogar noch überbieten und die, theoretisch gesehen, genau dieselbe Bedeutung haben, nämlich Charakter als ein System von Strebungen zeigen, das sich im Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens formiert, zwar nicht ganz unveränderlich ist, sich aber doch im allgemeinen wenig verändert, wenn es einmal ausgebildet ist, und das schließlich bestimmt, wie er handelt, wie er fühlt, wie er denkt.

Die Entdeckung des Begriffs des Charakters im dynamischen Sinn war eine ganz außerordentliche Entdeckung von Freud. Und das Merkwürdige, in Kürze kaum zu Erklärende ist, daß dieser Freudsche Charakterbegriff relativ wenig Beachtung gefunden hat. Auch seine Theorie vom Todestrieb und vom Lebens- oder Liebestrieb ist nie recht populär geworden, außer bei Fachgenossen. Was von Freud übernommen wurde, ist die Sexualität. Wenn Menschen von Freud reden oder ihn zitieren, dann sprechen sie, abgesehen natürlich von seiner Entdeckung der Verdrängung, der Rationalisierung, der Symboldeutung, nur noch von der Sexualität, vor allem der kindlichen Sexualität, als der Wurzel aller Pathologie, nicht aber von seiner zentralen Entdeckung des dynamischen Charakterbegriffs, der der Schlüssel zum Verständnis des Untergründigen im menschlichen Verhalten ist.

Dazu hat vielleicht ein Verdrängungsmechanismus, oder wenn Sie so wollen, ein Widerstandsmechanismus beigetragen; wenn Sie charakterologisch fragen: ja wer bist du eigentlich, was sind denn die wahren Motive deines Handelns, wovon bist du wirklich motiviert, im Unterschied zu dem, was du glaubst oder vorgibst zu glauben, in Gegensatz zu dem Bild, das du von dir selbst hast oder zu projezieren versuchst? – dann stößt man auf recht schwierige persönliche Probleme. Da enthüllt man, da entdeckt man – und das will keiner gerne tun; bei anderen schon, aber da müßte er sich darauf gefaßt machen, daß die andern sich auch mit ihm etwas näher befassen. Und so ziehen es alle vor, erst lieber gar nicht damit zu beginnen. Das ist natürlich ein ungeheurer Verlust, denn die meisten Probleme des Einzelmenschen wie der Gesellschaft lassen sich nur aus der Kenntnis des Charakters heraus verstehen.
Nun handelt es sich bei dem Problem des Charakters nicht nur um den individuellen Charakter: wer bin ich? wer sind die anderen?, sondern das wichtigste Problem besteht darin, was ich als den "sozialen Charakter" bezeichnet habe.

Frage: Können Sie den Begriff des "sozialen Charakters" etwas näher erläutern?

Fromm: Hierbei geht es vor allem um den Begriff der Motivation des Einzelnen. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier ganz wesentlich dadurch, daß sein Handeln kaum noch von Instinkten determiniert wird. Wenn ich sage vom Tier, dann muß ich hinzufügen, daß in der Evolution des Tieres, je höher sie ist, bis hin zu den Primaten, die instinktive Determination desto schwächer ist. Bei Primaten, bei Schimpansen z. B., ist sie schon sehr gering, so daß einer der bedeutendsten Forscher des Schimpansenlebens, Kortland, gesagt hat, Schimpansen seien zögernd und etwas entscheidungsunfähig, weil sie instinktmäßig nicht rasch und entschieden genug reagieren. Das ist auch ganz begreiflich, denn beim Schimpansen, als dem vor dem Menschen höchstentwickelten Tier, ist tatsächlich die instinktive Determination recht gering geworden. Beim Menschen selbst ist sie außerordentlich gering. Gewiß gibt es einige instinktive Triebe, die aber auch schon sehr vermischt sind mit Lern- und Umweltfaktoren: der Hunger, der Durst, das Schlafbedürfnis, die Aggression als defensive Aggression, bis zu einem gewissen Grad Sexualität, vielleicht das, was man Mutterliebe nennt, aber das ist schon sehr fraglich. Damit kann man doch nicht leben! Ein Mensch, der nur von diesen Motiven getrieben wird, der weiß gar nicht, wie er sich in einer bestimmten Gesellschaft das Leben erhalten soll. Das Tier hat kein Problem in dieser Hinsicht, es lebt in Harmonie mit der Welt, indem es durch seine Instinkte der Umwelt unproblematisch angepaßt ist; es verhält sich rational, wenn wir unter rational die "zweckmäßige" Erhaltung seiner Struktur verstehen.

In diesem Sinne möchte ich betonen, daß Instinkte rational, und nicht, wie es häufig gesagt wird, irrational sind. Die Instinkte sind in dem Sinne rational, daß sie den Menschen zu dem leiten, was zweckmäßig und für seinen Gesamtorganismus angebracht ist. Im Gegensatz dazu sind gewisse Leidenschaften im Menschen, die im Gegensatz zu dem stehen, was für den Menschen förderlich ist und seiner körperlichen und auch seelischen Existenzerhaltung dient, irrational.

So betrachtet, wäre der Mensch das hilfloseste aller Tiere, der überhaupt nicht wüßte, was er machen und wie er sich verhalten soll. Er braucht also einen Ersatz für die fehlenden Instinkte, er braucht gewissermaßen eine "zweite Natur". Er braucht etwas, das ihn in die Lage versetzt, unter den gegebenen Lebensumständen ohne zu zögern und ohne nachzudenken zu handeln. Das wird ermöglicht durch den Charakter. Der Charakter ist das Substitut, der Ersatz des Instinktes unter menschlichen Bedingungen, in denen der Instinkt als neurophysiologisch und biologisch gegebener Faktor nur noch ganz schwach entwickelt ist.

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