Auszüge aus Manfred Koch-Hillebrecht's
"Der Stoff, aus dem die Dumheit ist"

Eine Sozialpsychologie der Vorurteile

Einleitung

Problemstellung

Dieses Buch handelt nicht von Intelligenz-Defekten. Es gibt auch keine Hinweise darauf, wie Kinder, die in der Schule sitzengeblieben sind, zu guten Noten kommen können. Das Problem der individuellen Intelligenz und ihres Fehlens ist überhaupt nicht Thema des Buches. Es befaßt sich vielmehr mit der kollektiven Dummheit. Salopp ausgedrückt: dieses Buch versucht eine wissenschaftliche Analyse des Bla-Bla. Es befaßt sich mit dem, was so geredet (und was so gedacht) wird: In Gesprächen, in Romanen, auf der Bühne, in den Massenmedien. Dieses Gerede wird ernst genommen. Wir wollen in die Welt der Stereotype eindringen und uns zur Aufgabe stellen, eine neue Deutung des Phänomens der Vorurteile zu geben. Sie sollen nicht nur als unausweichliche Bestandteile des Seelenlebens interpretiert werden, sondern auch als Bausteine unserer Kultur. Der Mensch wird als notwendigerweise vorurteilsbefangenes Lebenwesen angesehen. Die Vorurteile werden gedeutet als der Stoff, aus dem die Dummheit besteht, aber auch als der Stoff, aus dem die Einsicht hervorgehen muß. Vorurteile sind unumgänglich, sie sind nämlich ein Weg zur Erkenntnis.

Seit den griechischen Anfängen hat dieses Problem der Vorurteile das europäische Denken nicht losgelassen. Schon früh waren die Philosophen über einen Punkt einig: Das, was die Leute reden und denken, gilt nichts. Nur die Wahrheit der Wissenschaft zählt. Alles andere ist Meinung, Vorurteil. Vorurteil ist vornehmlich die Meinung des anderen, des Laien, des Dummen, des religiösen, des weltanschaulichen Gegners. Bollnow (1962; 117) spricht von einem "Aschenputtel-Dasein", zu dem die Meinung "in der philosophischen Überlieferung verurteilt" war.

Seit den Tagen der klassischen griechischen Philosophen war es nämlich das erklärte Ziel der Wissenschaft, die Meinung zu überwinden. In den "griechischen Anfängen der Philosophie" ist der Begriff Meinung "in eine falsche Beleuchtung" geraten. Parmenides sprach in seinem Lehrgedicht vom Sein von "dem sterblichen Meinen, dem Glauben und Treue nicht zukommt". Dieses Meinen führe auf einen falschen Pfad: "ihn zu verlassen es gilt, führt er zur Wahrheit doch nicht. Nur der andere Pfad ist wirklich vorhanden und echt." Diese Theorie wird von Platon dann theoretisch weiterentwickelt.

Man nahm die Meinung (die doxa) als ein unsicheres, seiner Gründe nicht bewußtes Wissen, also als ein Wissen niederen Ranges, wie es bei der gedankenlos dahinlebenden Menge verbreitet ist. (Bollnow 1962; 117)

Das zeichnete den Wissenschaftler vor dem Banausen aus, daß er dem Reich der Meinungen entfloh. Auch die Einstellungen sollte der Wissenschaftler bekämpfen, er sollte sine ira et studio sein Geschäft betreiben.

Im Mittelalter ging es dann um den Widerstreit von Glauben und Wissen, und wieder entschloß sich die Wissenschaft einseitig für das Wissen, indem sie den Glauben schlicht ausgliederte und dem Theologen überließ. Eine einflußreiche Richtung der Philosophie, die Aufklärung, hat schließlich im 18. Jahrhundert den Kampf gegen das Vorurteil auf ihre Fahnen geschrieben: "Ecrasez l’infâme ...". Die Beobachtung schien den Wissenschaftlern und Schriftstellern zur Zeit der französischen Revolution die Methode, ein für alle Male Irrtümer zu überwinden.

... Die Vorurteile werden der bisherigen Herrschaftsordnung zugewiesen. (Hölzle 1969; 88 über den Abbé Sieyès)

Die Erkenntnis sollte unter entschiedener Abkehr von der zuvor bestehenden Meinung, ganz von unten her, in einem in sich geschlossenen System errichtet werden.
Meinung und Wissen stehen ... in einem scharfen, unüberbrückbaren Gegensatz. (Bollnow 1962; 111)

Die Gegenposition wurde in der Antike von den Sophisten vertreten, die sich gegen den anmaßenden Anspruch wehrten: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! In der Neuzeit erhob Edmund Burke seine abweichende Stimme gegen den Chor der philosophischen Überlieferung. Er war einer der wenigen, die das Gerede des Volkes ernst nahmen, in den Überlieferungen, in den Meinungen der Masse einen Wert sahen, den man nicht einfach wegen der tieferen philosophischen Einsicht der Intellektuellen kurzerhand über Bord werfen durfte. Burke, den man als einen Philosophen der Restauration, als einen Kämpfer gegen die Ideale der französischen Revolution ansieht, verfocht die Position des "common sense" gegenüber den Aufklärungsphilosophen. Diese wiederholten nämlich in diesem Punkte nur die alten überheblichen Ansichten der philosophischen Tradition. Die Masse ist dumm, also soll sie die niedere Arbeit tun, die Philosophen sollen die Könige sein, meinte Platon. Ecraséz l’infâme ... drückte Voltaire denselben Gedanken für seine Epoche aus. Indem man die Ansichten des breiten Volkes abwertet, erhebt man Anspruch auf die "Priesterherrschaft der Intellektuellen" (Schelsky 1977).

Beim Problem der Vorurteile gibt es jedoch nicht nur den britisch-französischen Gegensatz, der zugleich ein Gegensatz zwischen dem konservativen und dem progressistischen Standpunkt ist – es gibt auch eine Kluft zwischen der deutschen und der westeuropäischen Tradition. Während nun in der britischen und französischen Überlieferung des Empirismus der Augenschein als Richtschnur der Wahrheit angesehen wird, betont die deutsche Klassik seit Kant die subjektive Komponente der Wahrnehmung: "Wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder", formuliert Herder (1787) diesen Standpunkt, der gegenüber einem schlichten Wahrheitsanspruch der Wahrnehmung Skepsis anmeldet.

Schopenhauer wertet ebenfalls die Wahrnehmung als Quelle der Erkenntnis ab. Er betont den Einfluß des Willens. "Der Grundirrtum der bisherigen Philosophie liege darin, daß sie den Menschen primär als erkennendes, anstatt wollendes Wesen aufgefaßt habe." (Mühlmann 1968; 141 f.) Immer behauptet der Wille seine "Oberherrschaft in letzter Instanz". Bestimmte Vorstellungen kann der Wille geradezu verbieten: "Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein." (Werke II; 240 ff.)

Der Gegensatz zwischen dem Briten Burke, der in den Vorurteilen eine notwendige Etappe auf der Straße der Wahrheit sah, und dem Franzosen Voltaire, der sie als Sackgasse, als Irrweg betrachtete, ist heute noch lebendig.

Zur Ablehnung der Vorurteile, zu ihrer strikten Bekämpfung führt jedoch nicht nur eine aufklärerische, sondern auch eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise. Die Naturwissenschaft braucht scheinbar keine Umwege, auch nicht die der Vorurteile. Die Methode scheint ihr die Sicherheit zu verleihen, auf dem geraden Wege zur Wahrheit vorzudringen. Die Anwendung der Statistik garantiert die Vermeidung des Irrtums. Dieser wird kalkuliert, mitberechnet und damit ausgeschaltet.

Dieser naiven, noch weitverbreiteten naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise entspricht ein bestimmtes Menschenbild, in dem die Vorurteile keinen Platz mehr haben. Das lebensfeindliche System Platons in modernem Gewande: Eine konsequente Erziehung werde schließlich den vorurteilsfreien Menschen hervorbringen. Die nationalen Vorurteile würden durch Lernprogramme ebenso verschwinden wie die Stereotype der Geschlechterrolle und alle Formen politischer Voreingenommenheit. Dieser Optimismus breitet sich auch in der Politik aus. Die mit Steuergeldern veranstalteten Besuchsreisen fremder "Multiplikatoren", worunter zumeist Journalisten zu verstehen sind, sollen durch Augenschein die Vorurteile abbauen. Das deutsch-französische Jugendwerk setzt ganz aufklärerisch schon im Jugendalter an, um die Vorurteile gewissermaßen an der Wurzel zu bekämpfen. Das Deutschenbild, das falsche Bild der Frau, der Gastarbeiter, der alten Menschen, sie alle würden im Zuge dieser Entwicklung immer mehr den Klischeecharakter verlieren und der tatsächlichen Erkenntnis Platz machen. Das Vorurteil wird durch das Urteil ersetzt. Schon die Sprache deutet den geforderten Läuterungsprozeß an. Zuversicht über die Herstellbarkeit vernünftiger kalkulierbarer Ziele erfüllt noch viele Naturwissenschaftler und Politiker gleichermaßen.

Der Mensch wird als vernunftbegabtes, wahrnehmendes und schließlich urteilendes Wesen interpretiert. Als vernünftig und urteilend wird er vor allem dann angesehen, wenn er genau so urteilt, wie es ihm eine philosophische, naturwissenschaftliche oder politische Ideologie vorschreibt. Diese Konzeption ist in unserer Kultur, vor allem auch im Wissenschaftsbetrieb, festgeschrieben. Den Aufbau der psychologischen Disziplin stellt man sich folgerichtig so vor, daß auf der Grundlage einer statistischen Methodenlehre Wahrnehmung, Lernen und Denken als die Grundfunktionen des menschlichen Erkennens auf ihre Gesetzmäßigkeiten hin untersucht werden. Diese Funktionen sind nach dieser Ansicht die wichtigsten menschlichen Mittel auf dem Wege zur Wahrheit, zur berechenbaren Beherrschung der Welt.

Diese Ansicht der Naturwissenschaften ist ein nicht durchdachtes Erbe der platonischen Philosophie. In einer frühen Zeit, als die Philosophenschulen Geheimbünden mit esoterischen Praktiken glichen, hoben sie sich aus dem Kreis der Uneingeweihten durch ihre besonderen Methoden heraus, mit denen sie die Wahrheit erreichen wollten, die dem uneingeweihten Banausen für immer verschlossen war. Verstöße gegen die Methode sind Verfehlungen gegen den Ritus und führen selbstverständlich automatisch zu einer wissenschaftlichen Exkommunikation. Hofstätter (1957) hat die religiösen Hintergründe der behavioristischen Methodenlehre klargelegt.

Der Fortschritt der Naturwissenschaft schien mit der Methode der Verifizierung oder Falsifizierung von Hypothesen sicher und unvermeidlich. Die Statistik konnte entscheiden, ob man auf dem rechten gesicherten Weg der Wahrheit war oder auf dem falschen des Vorurteils.

Die Verteidigung der Vorurteile wird hingegen in der aktuellen Theoriediskussion vor allem von geisteswissenschaftlichen Ansätzen aus betrieben. Mit einer veränderten Einstellung zu den Vorurteilen gehen veränderte Auffassungen über das Menschenbild, über die zu verwendenden Methoden und über den Aufbau der Wissenschaft Hand in Hand. Insofern treffen wir mit einer Diskussion über die Vorurteile mitten in den ideologischen Streit um die Methoden und Erkenntnisse der Psychologie. Methodenfragen, so hatte Rothacker (1952; 143) erkannt, sind immer Weltanschauungsfragen.

Wir versuchen nun, den geisteswissenschaftlichen Standpunkt, den wir vertreten wollen, kurz zu umreißen. Er unterstreicht die Wichtigkeit der Vorurteile als einer Form des "Vorverständnisses" (Gadamer 1974), als eines Angriffspunktes des Interesses auf dem Wege der Erkenntnis.

Von mehreren Seiten ist diese wissenschaftstheoretische Position in den letzten Jahren vorbereitet worden, zum Beispiel von Karl Popper (1969), der die 2-Wege-Theorie, das Sackgassenbild der Wissenschaftsentwicklung ablehnt. Wissenschaftler und Laie unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine von vornherein eine durch Methode gesicherte Erkenntnis gewönne, der andere nur das Vorurteil, die doxa, besitze.

Die Weise, in der unsere Erkenntnis fortschreitet, und insbesondere unsere wissenschaftliche Erkenntnis, geschieht durch ungerechtfertigte (und nicht zu rechtfertigende) Vorwegnahme, durch Raten, durch versuchte Lösungen unserer Probleme, durch Konjekturen.

Die Vorurteile sind wichtiger Bestandteil des Prozesses der Erkenntnisgewinnung, der erst a posteriori, nachdem der ganze Weg überblickt wird, kritisch gereinigt werden kann.

Ganz ähnlich, wenngleich ohne näheres Eingehen auf die naturwissenschaftliche Methodenlehre, aber nicht minder überzeugend, hatte Spranger (1929) argumentiert. Auch er erkennt in der Haltung Platons eine wissenschaftliche Fehlentwicklung. Auch er legt die Phase der Kritik an den Schluß.

Den noch immer zahlreichen naiven Verfechtern einer voraussetzungslosen Wissenschaft hält Spranger (1929. 1963; 21) entgegen, daß jede Einzelwissenschaft "durch und durch philosophiegeladen" sei, in einem Maße, "daß die Verächter der Philosophie darüber erschrecken würden, wenn sie einmal merkten, wie philosophisch (allerdings auf fremde Rechnung) sie schon in ihren ersten Ausgangspunkten sind".

Bollnow (1962; 112) präzisiert den geisteswissenschaftlichen Standpunkt:

Die jahrhundertelangen vergeblichen Bemühungen der neuzeitlichen Erkenntnistheorie haben schließlich zu dem unabweislichen Ergebnis geführt, daß es grundsätzlich unmöglich ist, in der Erkenntnis einen "archimedischen Punkt" zu finden, bei dem man voraussetzungslos von vorn beginnen könnte.

Die Einsicht, daß man vor der Bekämpfung das Verabscheuungswürdige erst einmal genau untersuchen müsse, konnte von der Medizin profitieren, die auch Harn und Sputum als wichtige Erkenntnisquellen entdeckt hat. Die Wendung zum psychologischen Interesse an den Fehltritten, den Abfallprodukten des Erkenntnisprozesses setzt bei Nietzsche und dann endgültig bei Freud ein. Nietzsche (III; 503) erkennt:

Es gibt keinen Tatbestand ...; das Dauerhafteste sind noch unsere Meinungen.

Die Widerstände gegen die Lehre Freud’s haben eine Reihe von Ursachen. Sie mögen teilweise darin bestanden haben, daß er in den Träumen ein Arbeitsobjekt in Angriff nahm, das in der Nähe des akademisch verfemten Bereiches der doxa, des Glaubens, des Vorurteils lag.

Auch von der Phänomenologie Husserl’s her ist der Zugang zu den traditionell tabuisierten Formen menschlicher Erlebnisse gewagt worden. Wenn man der Überzeugung ist, daß das genaue Eingehen auf das Phänomen ein wesentliches Prinzip der Wissenschaft ist, muß man auch das alltägliche Reden in einem anderen Licht sehen als die bisherige Philosophie.

L. Binswanger tat die Meinungen der Geisteskranken nicht als dummes und irres Gerede ab, sondern nahm sie wissenschaftlich ernst, erfaßte sie, hörte ihnen genau zu und erreichte so neue Erkenntnisse über das menschliche Seelenleben.

Auch von einem ganz anderen Standpunkt kommt Habermas (1963) zu einem ähnlichen Ergebnis. Er fordert auf, die Ideologien nach ihren eigenen Intentionen zunächst einmal ernst zu nehmen.

Den Weg zu dieser verstehenden Betrachtung hatten schon der deutsche Idealismus und die historische Schule gebahnt (Meinecke 1959, Rothacker 1960). Ranke hatte das bahnbrechende Wort ausgesprochen, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei. In den nachgelassenen Papieren formuliert der große Historiker in den dreißiger Jahren:
Nicht die Meinungen prüfen wir ..., wir haben über Irrtum und Wahrheit schlechthin nicht zu urteilen. Es erhebt sich nur Gestalt neben Gestalt, Leben neben Leben, Wirkung und Gegenwirkung.

Hölzle (1969; 58 ff.) weist verwandte Gedanken bei Goethe und Hölderlin nach.

Auch die Wissenssoziologie (Scheler 1924, 1955, Mannheim 1952, Geiger 1953) hat erkannt, daß die Ideologien etwas Alltägliches sind. Das falsche Bewußtsein ist das normale Bewußtsein. Sorel formuliert diese Erkenntnis 1894:

Der Mensch lebt ebenso sehr von Illusionen wie von Realitäten.

Pareto (1916) nennt die Meinungen, die Auffassungen der Leute, das, was sie für wahr halten, "Derivationen", weil er glaubt, daß die geistige Welt aus den Triebstrukturen abzuleiten sei. Der Amerikaner Shils bezeichnet 1968 die Ideologien als "Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses, der Welt eine vernünftige Ordnung aufzuerlegen, und findet jene in allen Hochkulturen" (Hölzle 1969; 154).

Schließlich kommt Holzkamp (1973) in seiner kritischen Psychologie zur Ablehnung des platonisch-behavioristischen Modells, das er als "bürgerliche" Psychologie bezeichnet. Er legt eine geisteswissenschaftliche Psychologie vor, die er in einen marxistischen Mantel hüllt.

Es beginnt sich die Ansicht durchzusetzen, daß das Gerede der Leute, die Meinungen, ein ernstzunehmender Gegenstand der Wissenschaft sind.
Die grundsätzliche Wichtigkeit der Einstellungen und verwandter Phänomene in der Psychologie unterstreicht Metzger (1966; 10 f.):

Für die Erlebnisseite steht fest, daß sie im allgemeinen nicht aus Wahrnehmungen, sondern aus mehr oder weniger gesicherten Kenntnissen, aus Überzeugungen, aus mehr oder weniger tief verwurzelten Meinungen und Glaubensinhalten, aus "Selbstverständlichkeiten" besteht ...

Die Wirkung von Einstellungen ist auf dem Gebiete der angewandten Psychologie oft nachgewiesen worden, z.B. in der pädagogischen Psychologie, wo die Leistungen in bestimmten Fächern von der Einstellung zum Lehrer und von der Einstellung des Lehrers zum Schüler abhängig sind (Höhn 1967). Auch in der Militärpsychologie (Stouffer et al. 1950), in der Werbepsychologie, in der politischen und in der forensischen Psychologie spielen Einstellungen eine entscheidende Rolle (Kleining 1959, Lazarsfeld, Berelson, Gaudet 1948, Stern 1902).

In benachbarten Disziplinen ist das Problem der Einstellungen ebenfalls erkannt worden. Die Friedensforschung untersucht u.a. Einstellungen (Bronfenbrenner 1961, Kelman 1965, Thomae 1966). Auch der soziale Friede innerhalb von Gesellschaften ist von den Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Eine schon fast unübersehbare Literatur liegt über die Einstellungen der weißen Majorität zur schwarzen Minorität in den USA und zu den Reaktionen der Minorität auf die Einstellungen der Majorität vor (Clark u. Clark 1947, Radke, Trager u. Davis 1949, Radke u. Trager 1950).

...

Vorurteile als Bestandteile der Kultur

Ist einmal eine recht handgreifliche
Abgeschmacktheit zu Papier gebracht,
so rollt selbige von Buch zu Buch,
und es ist das erste,
wonach die Büchermacher greifen.

A. von Chamisso: Reise um die Welt

...

Klischees, Formeln, Floskeln

Im Ablauf und im Inhalt der Märchen fallen gewisse Stereotypien auf. Am Anfang steht die Formel: Es war einmal. Dann beginnt es damit, daß ein junger, armer Mensch auszieht, nun sein Glück zu suchen, daß arme Leute nicht wissen, wie sie sich helfen sollen. "Die meisten Märchen handeln von armen Leuten und ihrem Weg zum Glück". "And they lived happily ever after", heißt es dann im Englischen. Zu Deutsch: "Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch". Diesen von Kindern so geschätzten glücklichen Ausgang sieht Röhrich (1976; 19, 26) als einen wesentlichen Bestandteil der Märchen an: "Erlösung ist das märchentypischste und märchencharakteristischste Motiv".

Da gibt es Erlösung aus der Armut, aus der Niedrigkeit, aus besonderer Häßlichkeit, Erlösung aus Tiergestalt, Erlösung durch Liebe und Heirat, Erlösung zu einem himmlischen Dasein oder zu einem höchstirdischen Glück, in Wohlstand und ohne Tod.

Die bunte unübersehbare Vielfalt des Lebens wird also vom Märchen in Formeln, in bestimmte Ablaufschemata gefaßt, um verständlich, um faßbar zu werden. Naturvölker und Religionen interpretieren in ähnlichen Formeln den Lauf der Geschichte. In der sogenannten Heilsgeschichte gibt es als Folge des Sündenfalls, der zur Vertreibung aus dem Paradies führte, eine notwendige Periode der Läuterung, in der wir uns augenblicklich befinden, mit mehr oder minder deutlichen Anzeichen, daß die Endzeit nahe ist. Dieses happy end der Historie kann nun verschieden interpretiert werden: als Reich Gottes, als Herrschaft der Vernunft, als Aufhebung der Klassengesellschaft (vgl. Mühlmann 1961). Meinecke hat in seiner Entstehung des Historismus die Grundformel des ständigen Fortschritts in der Geschichtsschreibung der Aufklärungsphilosophen nachgewiesen. Auch im marxistischen Weltbild entwickelt sich die Geschichte wie im Märchen von Hänsel und Gretel oder vom Rotkäppchen. Ist erst einmal die Hexe (bzw. der Wolf oder der Kapitalismus) getötet, dann leben alle glücklich und zufrieden.

Röhrich (1969; 9ff.) weist weitere Tendenzen der Vorurteilsbildung im Märchen nach. Einmal im Bereich der sozialen Schichten:
Im Märchen ist fast immer der Arme zugleich der ethisch Gute, im Gegensatz zu den bösen Reichen. Der Soldat klagt über herrische Offiziere und fehlende Altersversorgung, der Handwerksgeselle über schlechten Lohn, Arbeitslosigkeit oder hohe Kostpreise, der Knecht über die harte Behandlung durch den Gutsbesitzer, dessen Leibeigener er ist, der Bauer über den zinswuchernden Geldverleiher.

Der Hochgestellte wird durch die verzerrende Brille des Niedrigen gesehen:

Und sogar das Phantastische kommt nicht über die gesellschaftlichen Gegebenheiten der Erzähler hinaus. Der König ist nun eine Art Großbauer: Vor dem Dach der Kammer der Königin liegt der Flachs. Wenn der König und die Königin ausgegangen sind, steht das Schloß leer. Der Bursche, der im Schloß nach Arbeit fragt, muß zuerst mit der Magd verhandeln. Auf Wunsch ihres Vaters geht die Königstochter mit der Gießkanne auf die Wiese, um die Wäsche zu bleichen, und der König rät seiner Tochter zur Heirat, weil ein Mann auf den Hof muß. Als der König hört, daß die Königin ihm einen Sohn geboren hat, geht er in die Schenke und trinkt sich einen Rausch an. Beim Taufschmaus im Königshaus reichen die Teller nicht aus, und der König kommt in Verlegenheit, als sich noch ein dreizehnter Gast einstellt. Die Schilderung unserer Märchenschlösser stammt also offenkundig nicht von den Bewohnern der wirklichen Schlösser. (Röhrich 1976; 25)

Auch das Verhältnis der Geschlechter wird im Märchen mit der Brille des Vorurteils gesehen. Die Hexe ist ein Zerrbild der Weiblichkeit, eine Verkörperung des Bösen in Frauengestalt:

Ebenso zeigt das Märchen im Verhältnis der Geschlechter Rollenzwänge aus der patriarchalischen Welt: Der Mann soll Heldentaten vollbringen. Der Frau hingegen fällt häufig eine dienende Rolle zu: Sie wird zur Gänsemagd erniedrigt, oder sie führt ein Aschenputteldasein am häuslichen Herd. Als Dienstmädchen der Frau Holle wird sie für fleißige und hingebungsvolle Hausarbeit wie Betten ausschütteln und Wohnung sauberfegen belohnt, oder sie führt den Haushalt der sieben Zwerge, während diese zur Arbeit ausziehen. (Röhrich 1976; 22)

Das Verhältnis der Geschlechter ist stets ambivalent. (Röhrich 1976; 13)

Hedwig von Beit (1952; 97 ff, 335) sucht die formelhaften Strukturen des Märchens im Sinne der Archetypenlehre C. G. Jung’s zu interpretieren:

Die zwei Urbilder, welche in fast jedem Märchen erscheinen – sei es allein oder beide zusammen sind die des Vaters und der Mutter ... Der Archetypus des Vaters ... tritt auf als der Vater, der Großvater, der Ahne, der männliche Totem-Ahne, der alte Weise oder Lehrer, der Greis, der Zauberer, der Medizinmann, der Handwerker (Demiurg), der alte Häuptling, der alte König, der verkrüppelte Alte, der schwarze Mann, der Waldgeist, der Herr des Waldes und der Tiere ... Allgemein bedeutet das Bild des Vaters das Schöpferische, das Geistige, das anregend Bewegende.

Der Weg der armen Leute zum Glück wird von ihr als Suchwanderung angesehen: Der Archetyp, der sich in Märchen am häufigsten darstellt, ist die "Große Fahrt", die abenteuerreiche Suchwanderung nach der "schwer erreichbaren Kostbarkeit", dem Symbol des Selbst, und diese Fahrt spiegelt "den Prozeß einer inneren Entwicklung".
Immer treffen wir in der Literatur feste Formeln des Ablaufs und des Inhalts, Verhaltensmuster, Normen, deren Entstehung entweder historisch oder strukturalistisch erklärt wird. Abweichungen sind, wenn überhaupt, nur mit Vorsicht möglich. Märchen mit schlechtem Ausgang sind wenig populär. Auch gute Hexen, böse Arme und gute Reiche würden vornehmlich Verwirrung stiften. Ähnlich wie im Western muß der bad guy vom guten Sheriff, der Verkörperung von law and order, zu unterscheiden sein. Als den gemeinsamen Nenner von Kitsch und Märchen sieht Killy (1973) das Verlangen an, die "Undurchschaubarkeit der Weltverhältnisse" in "einfache Bilder" aufzulösen, in Ordnungsmuster, die der Leser den Zufälligkeiten der Wirklichkeit unterlegen kann, so daß ihm eine Weltdeutung möglich wird.

Eine der einflußreichsten Untersuchungen über Stereotypbildungen in der abendländischen Literatur stammt von E. R. Curtius (1954; 89). Er führt viele feststehende Formeln auf die antike Rhetorik zurück:

Im antiken Lehrgebäude der Rhetorik ist die Topik das Vorratsmagazin. Man fand dort Gedanken allgemeinster Art; solche, die bei allen Reden und Schriften überhaupt verwendet werden können.

Als Beispiel für derartige Gemeinplätze (Topoi) in der europäischen Literatur führt Curtius die Ideallandschaft an:
Die Naturschilderungen des Mittelalters wollen nicht die Wirklichkeit wiedergeben. ... Was sollen wir aber sagen, wenn ein Dichter aus Lüttich meldet, der Frühling sei gekommen: Ölbäume, Palmen und Zedern trieben Knospen. Ölbäume waren im nordischen Mittelalter erstaunlich häufig. ... Woher stammen sie? Aus den rhetorischen Schulübungen der Spätantike. Im mittelalterlichen Europa gibt es auch Löwen! ... Eckehart IV. von St. Gallen hat eine Reihe von poetischen Segenssprüchen über Speisen und Getränke hinterlassen, denen man bisher "hohen kulturgeschichtlichen Wert" zusprach, da man in ihnen "einen vollständigen Küchenzettel des Klosters" zu besitzen glaubte.

Das ergab folgendes Bild von der Ernährung unserer Vorfahren:

Zuerst füllte man den Magen mit vielerlei Brot und Salz, um dann mindestens je einen Fisch-, Geflügel-, Fleisch- und Wildbretgang zu nehmen (alles ohne Saucen, Gemüse oder sonstige Beigaben), worauf man Milch trank und zunächst einmal zum Käse überging – usf. ... Es ist jetzt erwiesen, daß die Benediktionen im wesentlichen Victualien betreffen, die Ekkehart in den Etymologien des Isidor von Sevilla fand, also "versifizierte Lexikographie" sind.

Ein anderes Beispiel ist das Herrscherlob. Seit der Zeit des Augustus gehöre es zum Image der Herrscher, Weisheit und Tapferkeit zu vereinen:

Die meisten Kaiser der ersten beiden Jahrhunderte waren bildungsfreundlich oder wollten es scheinen. ... Die archaische Polarität, Weisheit – Tapferkeit, formt sich im Zuge dieser kulturellen Wandlung zu einer neuen, sehr viel differenzierteren Gestalt um. ... Der Imperator ist Feldherr, Herrscher, Dichter in einem. (Curtius 1954; 185)

Die germanischen Heerführer und Könige, so die Vandalen, die Ost- und Westgoten, die Merowinger und vor allem die Karolinger haben dann vielfach die Nachfolge der Imperatoren auch in dieser Beziehung übernommen.

Noch heute gehört zum Image des erfolgreichen Kandidaten für die amerikanische und französische Präsidentschaft, die deutsche Kanzlerschaft, die britische Ministerpräsidentschaft diese Verbindung von heldischer und musischer Begabung. 14% der amerikanischen Bevölkerung hielten Eisenhower nicht nur für einen guten Feldherrn, sondern auch für einen guten Philosophen.

Die Psychologen interpretieren dieses Ergebnis als Halo-Effekt. Ob es sich hier um historische Einflüsse oder angeborene Dispositionen handelt, in den Krönungsriten der Könige von Frankreich und den demokratischen Wahlkämpfen finden sich jedenfalls gewisse Parallelen (P. E. Schramm).

Starre klischeehafte Handlungsabläufe fallen nicht nur beim Ritus und bei dem von Regeln geleiteten Spiel auf (vgl. Huizinga), sondern auch als neurotische Lebensstrategien. Berne (1966) untersuchte diese Spiele der Erwachsenen und unterschied "Lebensspiele", "Unterwelt-Spiele", "Sexual-Spiele", "Party-Spiele". Das Lebensspiel des Alkoholikers bestehe darin, anderen zu beweisen, daß niemand ihn bremsen könne. Der Dieb komme zu den klischeeartigen Rückfällen in seiner Biographie, weil er danach trachte, immer wieder erwischt zu werden. Aber auch im normalen Leben finden wir vergleichbare Stereotype, die von unserer Gesellschaft besser akzeptiert werden als die Spiele "Alkoholiker" und "Dieb".

Formeln sind also nicht nur Brillen für eine normierte Wahrnehmung, sondern auch Leitlinien für das Handeln. Der Topik als einer Vorratskammer für das Normale, aus der sich der Literat (aber auch der Richter, der Staatsanwalt) Rat holen kann (vgl. Viehweg 1952), entspricht der Knigge für die menschlichen Verhaltensweisen.

Watzlawick (1969) weist auf die Möglichkeit hin, daß zwischen dem klischeehaft geforderten Verhaltensmuster und der tatsächlichen Stärke Diskrepanzen auftreten können. Kellnerinnen trugen den Button "We are glad you are here" zu einer düsteren feindseligen Miene.

Aber nicht nur der arme Angestellte wird in Klischees gefangen, auch der eifrige Tourist, der seine harte Währung mit vollen Händen ausgeben muß, um das Sehenswerte wirklich zu sehen. Der Blick wird durch die Sterne des Baedeker geleitet. Eine Sehenswürdigkeit mit 3 Sternen hat das Recht auf längere Besichtigung und ehrfurchtsvollere Betrachtung:

Für den Guide bleu gibt es Menschen nur als Typen. In Spanien zum Beispiel ist der Baske ein verwegener Seemann, der Ost-Spanier ein fröhlicher Gärtner, der Katalane ein geschickter Kaufmann und der Kantabrier ein gefühlvoller Gebirgsbewohner. (Barthes 1964; 60)

Doch nicht nur unsere Wahrnehmung wird in unserer Kultur von Klischees geleitet, auch unser Benehmen. Gib das schöne Händchen!, wird dem Kind gesagt, wenn es zufällig die Linke dem Fremden zum Gruß hinstreckt. Bei den Erwachsenen sind die Verhaltensvorschriften verständlicher und genauer:

Eine Dame grüßt nicht zuerst, sondern wartet den Gruß des Herrn ab. Du darfst als Dame nicht vergessen, daß du den, von dem du einen Gruß erwartest, auch ansehen mußt. Wendest du den Blick ab oder schlägst ihn nieder, so machst du den Gruß unmöglich oder doch bedeutungslos. Jungen Mädchen steht es aber wohl an, ältere Herren oder solche, denen sie besondere Achtung schulden, wie Geistliche, Lehrer, zuerst zu grüßen. ... Autoritäten auf dem Gebiete der Kunst oder Wissenschaft, stadtbekannte, hochgestellte Leute darfst du grüßen, auch ohne ihnen persönlich bekannt zu sein. ... In einen geschlossenen Wagen grüße nicht hinein. Von Wagen zu Wagen grüßen die Damen, indem sie sich verneigen; die Herren, indem sie den Hut lüften, beim Selbstfahren durch Senken der Peitsche. Beim langsamen Reiten durch Neigen des Kopfes, bei schnellem durch Senken der Peitsche; auf dem Fahrrad durch leichte Kopfneigung. Im Automobil brauchst du nicht zu grüßen. (Konstanze v. Franken: Der gute Ton, Vom Grüßen)

Andere Formen von Vorurteilen treffen wir beim Finanzamt. Fährst du nach London, um dich auf einem Kongreß zu amüsieren, kannst du’s von der Steuer abziehen. Fährst du nach London, um angestrengt 3 Wochen in der Bibliothek des Britischen Museums zu arbeiten, hast du große Schwierigkeiten, dies anerkannt zu bekommen. Fährst du in den Süden, ist es verdächtig, auch der Steuerbeamte denkt da an Palmen, Strände und dolce far niente. Die Bearbeitung deines Steuerfalles geht nach Klischee, schon weil’s ja schnell gehen soll. Verdächtig ist, was aus dem Rahmen fällt. Das gilt auch für die Polizei. Der Rat an die Bürger: Live up to your image: Bleib innerhalb deines Klischees.

...

Die Illustrierten und die Wirklichkeit

Wenn man einigen kritischen Stimmen Glauben schenken will, so sind in Illustrierten hauptsächlich kaum bekleidete Mädchen zu sehen. Die Massenmedien verführen nach dieser Ansicht den gesunden Sinn der Bevölkerung, indem sie die normalerweise bekleidete Person in einem besonderen Ausnahmezustand, in dem sie sich nur ganz selten befindet, abbilden und festhalten, während sie das Normale vernachlässigen.

Die ganze Seite ist voll mit Nichtigkeiten: Verbrechen, Sex, Sport; und Sport, das harmloseste in diesem Terzett, ist zugleich auch das bedeutungsloseste. (Toynbee, in: Reinich 1964, S. 51)

Der mangelnde Sinn für das Normale tritt nach dieser Ansicht in den Massenmedien auch noch in zweiter Hinsicht zutage. Sie gaukeln dem schlichten Bürger eine Traumwelt vor, verfälschen damit seine gesunden Maßstäbe und machen ihn glauben, es müsse jeder Durchschnittsmensch in den Villen und Palästen wohnen, die im Kino, im Fernsehen und in den Illustrierten zu sehen sind.

Die Gewöhnung an die Massenmedien verdirbt nach Ansicht ihrer Kritiker den unbefangenen Zuschauer. Lang und Lang (1953; 3) untersuchten in einer Pilot-Study die verschiedenen Wirkungen, die ein öffentliches Ereignis (die Ankunft McArthurs in Chicago) auf einen Fernseh-Zuschauer und auf einen Augenzeugen hat. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß ein und dasselbe Ereignis dem Augenzeugen viel weniger dramatisch erscheint als dem Zuschauer am Fernsehapparat. Die meisten vom Fernsehen verwöhnten Augenzeugen waren über das Ereignis enttäuscht, während die Fernsehteilnehmer einheitlich der Meinung waren, einem bedeutsamen geschichtlichen Ereignis beigewohnt zu haben.

Noch beunruhigender sind die Ergebnisse amerikanischer Psychiater, bei denen sich die Patienten beklagen, daß sie nicht dieselben großen und dramatischen Gefühle hätten, die allenthalben bei den Helden auf der Leinwand festzustellen sind.

Nun wird kein einsichtiger Kritiker meinen, die Massenmedien müßten den langweiligen grauen Alltag der Welt schlicht abbilden. Das Außergewöhnliche, Bedeutsame bewegte seit den Tagen Homers immer die Seele des Erzählers und wurde deshalb berichtet, während der graue Alltag keinen Chronisten fand.

Wenn man aber das Durchschnittliche nicht als das Normale ansehen kann, was ist dann das Normale? Es besteht die Gefahr, daß jeder Kritiker der Massenmedien seine persönliche Weltansicht als Maßstab setzt, an dem dann die Medien gemessen werden sollen.

Das Normale ist zudem nicht immer das Erfreuliche. Dies gilt nicht nur vom Inhalt der Massenmedien, es gilt auch von der Eigenart des Publikums. Jaspers (in: Reinich 1964, S. 18) beschreibt die Überraschungen, als man daranging, breitere Bevölkerungsschichten systematisch zu untersuchen:

Als zu Anfang des Jahrhunderts die Intelligenzprüfungen und Kenntnisprüfungen aufkamen, waren wir erstaunt, wie gering der Kenntnisstand war, abgesehen von den Spezialkenntnissen der je besonderen Berufe. Damals sagte ein Psychiater, verblüfft von den Ergebnissen: Normal ist leichter Schwachsinn.

Die Problematik der tendenziösen Berichterstattung ist jedem Journalisten vertraut. Es ist ihm klar, daß es schwierig ist, objektiv zu berichten, und normalerweise setzt er seinen Stolz darein, diesem Ziel nahezukommen. Dieses Bestreben ist wohl allen Massenmedien gemeinsam. Im Film ist eine ganze Richtung, der Neoverismus, darauf aufgebaut, möglichst genau, ungeschminkt und minutiös die Wahrheit zu erfassen. Auch auf dem Gebiet der Illustrierten ist dieses Bestreben als erste und stärkste Tendenz zu erkennen.

Das Verhältnis von Männern und Frauen beträgt in der Bundesrepublik 47% : 53%. Auf den Bildseiten der deutschen Illustrierten hingegen wird den Männern 61% des Raumes gewidmet. Noch weniger Beachtung finden die Frauen im Textteil (nur 36% des Raumes).

Betrachten wir anhand einer Inhaltsanalyse von Illustrierten aus dem Jahre 1960 zunächst die Behauptung, in den Illustrierten seien vornehmlich unbekleidete Mädchen abgebildet (genaue Angaben der Versuchsanordnung M. Koch u. B. Bredereck 1965). Wenn wir das Problem schärfer umreißen, so stellt es eine Behauptung auf, die sich nach drei Kategorien nachprüfen läßt, nach den Kategorien Geschlecht, Alter und Bekleidung.

Die Behauptung ist zunächst abzulehnen, wenn man das Geschlecht ansieht. In Illustrierten wird prozentual mehr von Männern geredet, und es werden prozentual auch mehr Männer abgebildet, als es der Realität entspricht.

Das Ergebnis zeigt, daß im Text noch mehr von Männern die Rede ist als im Bild. Die Frauen sind also nach Ansicht der Illustriertenredakteure fotogener, aber doch nicht so fotogen, daß sie die Gleichberechtigung auf den Seiten der Illustrierten erreicht hätten.
Die Tendenz, die Frauen im Bild etwas stärker herauszustellen, zeigt sich auch, wenn wir die Durchschnittsgröße der abgebildeten Frauen betrachten. Frauen erreichen zwar auf den Bildseiten nicht den ihnen zustehenden Anteil, wenn sie aber abgebildet werden, werden sie im Durchschnitt etwas größer gezeigt als Männer. Hier zeigt sich eine frauenfreundliche redaktionelle Tendenz.

Zweitens ist das Alter der in den Illustrierten vorkommenden Personen mit dem wirklichen Alter der Bevölkerung zu vergleichen.

Es zeigt sich hierbei, daß die Gruppe der Männer mittleren Alters diejenige ist, die in den Illustrierten am stärksten überrepräsentiert wird. Die Behauptung, daß es vor allen Dingen junge Mädchen seien, die in den Illustrierten abgebildet sind, stimmt also nicht. Allerdings hat eine junge Frau eine größere Chance, in den Illustrierten behandelt zu werden, als eine ältere Frau, sie hat auch eine größere Chance, in die Illustrierten aufgenommen zu werden, als ein jüngerer Mann. Die Illustrierten schildern mehr die Welt der Erwachsenen als die der Kinder. Kinder und Teenager sind ganz allgemein in den Illustrierten unterrepräsentiert. Junge Mädchen im Alter der Teenager haben eine dreimal so große Chance, in den Illustrierten abgebildet zu werden, wie junge Männer.

Der dritte Punkt, der in der Behauptung von den wenig bekleideten jungen Mädchen, die die Seiten der Illustrierten angeblich füllen, nachgeprüft werden kann, ist die Frage der Bekleidung.

Sowohl im Textteil wie im Bildteil der Illustrierten ist also in überwiegender Mehrheit von Personen die Rede, die gewöhnliche Straßenkleidung angezogen haben. Die Uniform spielt in unseren Illustrierten eine größere Rolle als die Badeanzüge und Dessous. Im Textteil der Illustrierten nehmen die etwas anzüglichen Bekleidungsarten nur 7% des Raumes ein, auf dem Bild sogar nur 5%, während es die Uniform auf 11% im Bild und im Text sogar auf l7% des Gesamtraumes bringt. Die Behauptung von der Dominanz der Bild- und Textkategorie spärlich bekleideter Mädchen auf den Seiten der deutschen Illustrierten ist also abzulehnen. Wer diese Behauptung verficht, muß selbst ein wenig mit Skepsis betrachtet werden, denn er hat in seinem Beachtungsprofil spezifische selektive Tendenzen.

Am stärksten ist der Zug zur Objektivität im Bildteil der Illustrierten zu finden, am schwächsten auf den Titelbildern, die in viel geringerem Maße die Vielfältigkeit des Lebens spiegeln. In vielen Tabellen findet man, daß sich das Titelbild auf weniger Kategorien beschränkt als Bild- und Textteil. Als Beispiel sei die Bekleidung angeführt. Im Bild kommen alle Bekleidungsarten einmal vor, wenn auch manche seltener gezeigt werden. Auf den Titelbildern der Illustrierten jedoch fehlen im Jahre 1960 Brautkleid, Sträflingsanzug, Trachten und Dirndl. Viele Berufe werden im Bildteil nicht so prominent abgebildet wie es ihrer Bedeutung entspricht, aber es kommen doch alle Berufe irgendwann einmal vor. Dies ist ein Beleg dafür, daß der Bildteil zwar auswählt und Akzente setzt, jedoch keine Seite des Lebens unterdrückt. Hierin ist wohl ein Zeugnis für die Freiheit und Objektivität der Illustrierten zu sehen. Auf dem Titelbild jedoch fehlen die Wissenschaftler, die Schriftsteller, die Richter, Staats- und Rechtsanwälte, das Gerichts- und Gefängnispersonal, die Kriminellen und Angeklagten ebenso wie die Ingenieure und Techniker, die Beamten, die Handwerker und die Arbeiter.

Der Textteil hält sich in den meisten Gebieten in der Mitte zwischen der Traumwelt des Titelbildes und der Objektivität des Bildteiles. Nur in wenigen Hinsichten gibt er ein treueres Bild der Wirklichkeit. Er ist in der Behandlung der Vergangenheit objektiver als das Bild, das der Gegenwart, dem flüchtigen Moment, verhaftet ist.

Auch bei der Darstellung der Stimmung ist im Textteil ein stärkerer Zug zur Objektivität, zur volleren, umfassenderen Repräsentation der Buntheit des Lebens zu finden. Die ernste Stimmung der Arbeit wird im Bildteil zugunsten von extremen Stimmungen wie Grauen und Entsetzen verkleinert, im Textteil hingegen wird die weite Skala der Stimmungen recht gleichmäßig durchgespielt.

In ihrer Akzentsetzung klaffen Titelbild und Textteil am weitesten auseinander. Geht man die Gesamttabellen durch, um ein synthetisches Titelbild und eine synthetische Szene zusammenzustellen, die aus der jeweils am größten dargestellten Kategorie zusammengesetzt wird, so unterscheidet sich das typische Titelbild vom typischen Text folgendermaßen: Die Welt des Titelbildes wird von einer Frau dominiert, im Alter von 20 bis 30, die der Mittelschicht angehört, die in Straßenkleidung abgebildet ist, dem Beruf nach eine Schauspielerin, von der die Büste zu sehen ist. Die Szene spiegelt die Bühnensphäre wider, und es herrscht eine freundliche und heitere Stimmung.

In der Welt des Textes dominiert ein Mann mittleren Alters, der auch der Mittelschicht angehört und auch in Straßenkleidung abgebildet ist. Er ist ebenfalls ein Schauspieler, aber die Handlung spielt in einer Polizei- oder Gerichtssphäre, und die Stimmung ist ernst oder spannend.

Eine Analyse der durchschnittlichen Raumzuordnung auf dem Titelbild, im Bildteil und im Textteil gibt einen Hinweis darauf, was als fotogen angesehen wird. Wir geben eine kleine Übersicht über alle jene Kategorien, die auf dem Titelbild am größten dargestellt werden, im Inneren des Heftes, im Bildteil, schon etwas kleiner, und die dann im versteckteren Textteil noch kleiner erscheinen.

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