Auszüge aus Arno Gruen's
"Ich will eine Welt ohne Kriege"

Ich möchte mit Menschen in Dialog treten, die Güte, Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit besitzen und offen für das Eigene sind. Es müssen Menschen sein, deren Werte sich nicht an Macht, Erfolg und Geld ausrichten, sondern die keine Angst vor dem Anderssein haben, frei von Anpassungsdrang. Nur so wird man das eigene Selbst entdecken, das auf Mitgefühl gründet.

In einem aufrüttelnden Manifest richtet sich der Geschwister-Scholl-Preisträger an alle, die sich nicht damit abfinden, daß es Kriege gibt. Jeder kann etwas tun, um sie zu verhindern. Mit seinem persönlichsten Buch appelliert er auch an die kommenden Generationen, sich die Kraft für den Frieden zu bewahren und macht Mut, dafür einzutreten.

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Vorwort

Dieses Buch wurde für junge Menschen geschrieben – in dem Glauben, daß diese noch stärker an ihrer eigenen Sicht der Wirklichkeit festhalten als ältere Generationen. Leider übernehmen wir ja mit dem Alter sehr oft die in unserer Gesellschaft üblichen Denksysteme, die sich in Sätzen wie "Der Beste gewinnt", "Wer verliert, ist selber schuld", "Der Mensch ist nun mal schlecht" ausdrücken. Man paßt sich an, weil alles andere Angst macht. Die Jüngeren dagegen sehen noch andere Ufer. Sie möchte ich erreichen und ihre Wahrnehmung stützen. Natürlich wende ich mich auch an diejenigen, die in ihrem Denken jung geblieben sind und sich ihren eigenen Blick auf die Welt bewahrt haben, die sich noch anstecken lassen von der jugendlichen Lebendigkeit, der Intensität und der Hoffnung auf ein besseres Leben. All diesen Lesern möchte ich Mut machen, sich auf das Gute, das Kreative im Menschen zu besinnen.

"Ich will eine Welt ohne Kriege" – diesen Titel verdanke ich der Begegnung mit einer Gruppe von Jugendlichen, deren Begeisterung mich bewegte. Nach einem Vortrag in Stuttgart im Januar 2005 waren sie an mich herangetreten, um mich für die Jugendzeitung kritische masse zu interviewen. Sie wollten wissen, was man tun könne, um die Welt zu einem Ort zu machen, in dem Leben in all seiner Vielfalt möglich ist und bleibt. Diese Jugendlichen gingen mit ihren Fragen den Dingen ohne Furcht auf den Grund. Sie waren unerschütterlich in ihrem Wunsch nach einer friedvollen Welt. Wir stimmten darin überein, daß diese nur möglich wird, wenn "Maximen aus dem Bauch kommen", also aus dem Herzen und dem Mitgefühl.

Selbstverständlich geht es in diesem Buch nicht nur um Kriege, sondern um jede Art von Gewalt. Krieg ist jedoch die gefährlichste Form von Gewalt, denn er wird unter dem Signum der moralischen Gerechtigkeit ausgetragen. Immer wieder ziehen Nationen in den Krieg und glauben, in ihrem tödlichen Treiben eine "heilige Mission" zu erfüllen. Den darin liegenden Widerspruch erkennen Jugendliche oft viel deutlicher als ihre Eltern. Ich erinnere mich an meine Töchter, die schon während ihrer Schulzeit eine Erwachsenenwelt, die sie in der Schule zu Schutzübungen für den Kriegsfall aufforderte, für verrückt erklärten. Sie sagten: Was für ein Unsinn! Krieg war für sie unter keinen Umständen zu rechtfertigen oder entschuldbar.

In diesem Sinne widme ich dieses Buch der Jugend und den Erwachsenen, die wie ihre Kinder noch eine Hoffnung für die Menschheit in sich tragen.

Idee und Anregung für dieses Buch kamen von meiner Frau Simone. Das kritische Lesen übernahm unsere Tochter Zoé. Der Text selbst wurde gemeinsam mit Monika Schiffer geschrieben, deren einfühlsames Wirken dessen Gestaltung prägte.

Träume sind Lebendigkeit

Wünscht sich ein Kind eine Welt ohne Kriege, wird es von Erwachsenen als naiv abgetan, genauso wie der Jugendliche, der für Frieden demonstriert. Aber was ist naiv an solchen Wünschen? Was ist lächerlich daran, sich eine Welt ohne Gewalt vorzustellen? Warum wird ein von Liebe bestimmtes menschliches Zusammenleben verächtlich als naiver Traum abgetan?

Es gilt als erwachsen und realistisch, sich mit Kriegen abzufinden. "Erwachsene" halten Gewalt für ein Naturgesetz. Der Mensch sei nun mal böse, heißt es. Sogenannte Realisten haben viele solcher Weisheiten auf Lager: "Was im Leben zählt, ist der Erfolg", "Einer muß immer das Sagen haben", "Wenn man etwas haben will, muß man es sich erkämpfen", "Die Welt ist schlecht": Sätze wie in Stein gemeißelt, die vermeintliche Wahrheiten verkünden und doch nichts anderes sind als Behauptungen von Menschen, die nicht mehr bereit sind, an die Möglichkeit einer anderen und besseren Welt zu glauben.

"Vielleicht fehlt uns der Träumer, und wir wissen noch nicht einmal, daß er uns fehlt ... der Träumer, der wahre begeisterte Irre, der Einsame, der wirklich Verlassene, der einzige tatsächliche Rebell." Das schrieb vor etwa 60 Jahren der Schriftsteller Henry Miller. Träume können subversiver sein als politische Ideologien, deshalb sind sie für die selbsternannten Realisten so bedrohlich.

Eine Patientin erzählte mir einmal, wie sie mit fünf oder sechs Jahren im Garten auf einen wunderschönen mit Schnee bedeckten Baum schaute. Plötzlich schlug ihr die Mutter, die sich von hinten genähert hatte, mit der flachen Hand in den Nacken und schrie sie an: "Hör auf zu träumen!" Die Erinnerung der Patientin war so stark, so gegenwärtig, daß sie mich fragte, ob ich es gesehen hätte.

"Hört auf zu träumen!" ist eines der typischen Diktate, die Erwachsene zwischen sich und Jugendliche stellen. Träumen macht vielen Erwachsenen Angst, denn Träumen bedeutet Freiheit von den Einschränkungen des Alltags, von einer Ordnung, die dem Denken Grenzen setzt, aber auch Schutz vor Zweifeln und Unsicherheiten bietet. Viele Erwachsene haben sich in ein Bollwerk aus Pseudo-Wahrheiten eingemauert. Eine solche Festung gibt ihnen das Gefühl, sicher vor Überraschungen zu sein und das Leben unter Kontrolle zu haben. Doch was ist das Leben ohne Überraschungen? Sicherheit ist das Gegenteil von Spontaneität und Neugier, von Mitmenschlichkeit und der Freude am Neuen, am Anderen, am Unbekannten. Kurz: Sicherheit ist der Tod alles Lebendigen. Träume dagegen bedeuten Lebendigkeit. Träume durchdringen die Mauern der Ignoranz und öffnen den Blick für das, was im Leben alles möglich wäre.

Die amerikanischen Indianer verstanden dies. Deshalb hatten sie ein volles Leben – trotz materieller Not und Unsicherheit. In ihrer Weisheit wollten sie diese Unsicherheit auch gar nicht aufgeben. Diese Menschen besaßen, was wir heute weitgehend verloren haben: Gleichmut in der Unsicherheit, Sicherheit in der Hilflosigkeit. Denn ihre Stärke wurzelte nicht in Unverletzlichkeit, sondern im Akzeptieren von Leid und Schmerz als einem selbstverständlichen Bestandteil des Lebens (auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen). Eine Jugend, die noch träumen kann, hat noch etwas von diesem Potential. Der Verlust kommt erst später, wenn das Träumen aus Gründen der Anpassung aufgehört hat.

In seinem Roman "Nachtzug nach Lissabon" schreibt Pascal Mercier über die Jugend:

Wieviel Leben sie noch vor sich haben; wie offen ihre Zukunft noch ist; was noch alles mit ihnen passieren kann; was sie noch alles erleben können.

Eltern, aber auch Gesellschaften im Allgemeinen, haben drei Alternativen, sich gegenüber diesem Zukunftspotential ihrer Kinder zu verhalten: Entweder sie lieben deren Möglichkeiten und fördern diese so gut sie können. Oder sie mißbrauchen sie, um ihre eigenen Vorstellungen als gute Eltern zu bestätigen. Oder sie unterdrücken dieses Lebendige, weil sie es selbst nie leben durften, weil sie es ihren Kindern neiden und deshalb niedermachen müssen. Darum geht es in diesem Buch – und natürlich um die Frage, was das alles mit unserem Wunsch nach einer friedlichen Welt zu tun hat.

Kriege werden von Menschen gemacht

Kriege und deren Ursachen werden gewöhnlich unter politischen, ökonomischen und ideologischen Gesichtspunkten betrachtet. Krieg ist aber vor allem ein menschliches Problem. Es sind ja immer Menschen, die Kriege führen und andere töten. Es sind Menschen, die das Töten veranlassen, und es sind Menschen, die zulassen, daß getötet wird. Was also treibt Menschen dazu, anderen Gewalt anzutun? Was läßt Soldaten selbst den widersinnigsten Befehlen Folge leisten? Was bewegt einen Politiker, Tausende in den Tod zu schicken und sich und anderen auch noch vorzumachen, er täte Gutes damit? Und was veranlaßt Bürger, die sich für frei und demokratisch halten, ihm zu folgen und ihn trotz seiner mörderischen Ambitionen als Retter und starken Mann zu verehren? Die Frage, die mich hier interessiert, lautet: Warum wirkt hier nicht, was uns Menschen miteinander verbindet und was uns allen gewissermaßen als Hemm-Mechanismus gegen das Töten mitgegeben ist – nämlich das Mitgefühl?

Ich selbst entstamme einer Generation, die unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg erwachsen wurde. 1936 bin ich mit meinen Eltern von Deutschland über Polen und Dänemark in die USA geflohen. Amerika wurde für mich das Land der Freiheit, das meiner Familie wie vielen tausend anderen einen neuen Anfang bot. Ich habe über vierzig Jahre dort gelebt. Umso mehr erschreckte es mich, als Amerika vor einigen Jahren anfing, innenpolitisch die Menschenrechte einzuschränken und sich außenpolitisch in ein Imperium zu verwandeln, das den Krieg sucht. Vieles begann, sich für mich wie die Wiederholung einer schrecklichen Vergangenheit anzufühlen. Vielleicht hat der Dichter Hans Krieger Recht, wenn er schreibt:

Falscher noch
wir wußten es lange
hofften und irrten doch weiter
falscher noch als die alte
falsch auch die neue Welt
die Schattenwelt
die Welt ohne Schatten
ein moderner Pfahl
aus dem Sumpfgrund Europas –
Und als vom Traum
der erneuerten Welt
nichts als der Kaugummi blieb
nur die Käfighaft
nur die Taktik des Erstschlags
war das grausame Großherz
immer noch guten Willens
war es durchpulst
von blutiger Güte
und vom Hoffen nicht satt.

Menschen unterstützen leidenschaftlich eine Politik, die sich unter dem Deckmantel der Demokratisierung ganzer Völker bemächtigt. Krieg als spektakuläre Demonstration nationaler Stärke und Unverwundbarkeit überdeckt ihre Minderwertigkeitsgefühle und verleiht ihnen eine imaginäre Kraft, die sie aus sich heraus nicht haben.

Was zurzeit in der Welt geschieht, erinnert mich an das apokalyptische Gedicht "The second Coming", das der irische Dichter William Butler Yeats kurz nach dem Ersten Weltkrieg schrieb:

Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr
Schiere Anarchie ergießt sich auf die Welt
Bluttrübe Flut ergießt sich; überall
Versinkt der Unschuld feierlicher Brauch
Den Besten fehlt der Glaube und die Schlimmsten
Erfüllt hingebungsvolle Leidenschaft.

Kriege sind letztlich nur möglich unter der Voraussetzung einer Übereinkunft von Menschen, die daran – aktiv oder auch passiv duldend – beteiligt sind. Natürlich gibt es zwischen diesen Menschen Unterschiede hinsichtlich ihrer Verstrickung in das Töten und Zerstören. Ich werde jedoch aufzeigen, daß ihnen allen etwas gemeinsam ist, was ihre Allianz begründet: Sie verleugnen einen Schmerz, der mit einer frühen Unterdrückung in ihrer Kindheit zu tun hat. Diese Unterdrückung kreist um empathische Wahrnehmungen, auf die ich noch später zurückkomme. Der daraus resultierende Schmerz mußte aus dem Erleben abgespalten werden, um überleben zu können. Das ist die zentrale Aussage des Buches, die ich im folgenden begründen und herleiten werde, denn sie führt letztlich zur Antwort auf die Frage, was jeder von uns tun kann, um die Welt friedlicher zu machen.

Hitler als Vorläufer moderner Kriegstreiber

Während meiner Vorträge werde ich häufig gefragt, ob ich einen Hitler auch heute noch für möglich halte. Ich antworte dann, daß das Zusammenspiel, das ihn bestimmte, noch immer besteht. Es handelt sich um ein Zusammenspiel zwischen einem Menschen, der die Pose von Entschlossenheit und "männlicher" Kraft verkörpert, und den Ehrgeizigen, die ihm folgen, weil diese Pose ihnen die Möglichkeit gibt, schnell erfolgreich zu werden. Auch Menschen, die sich Erlösung durch die vermeintliche Kraft, die die Pose verkörpert, erhoffen, wirken an diesem Zusammenspiel mit.

In seinem TV-Film "Speer und Er" zeigte Heinrich Breloer Adolf Hitler und seinen Lieblingsarchitekten und späteren Rüstungsminister Albert Speer als zwei Menschen, wie sie einem auch heute in der Riege der Erfolgreichen und Mächtigen begegnen könnten. Die Nazis – das sollten wir nicht vergessen – waren damals das, was wir heute als "hip" und "trendy" bezeichnen würden. Ihre Uniformen waren "cool", und ihr Lebensstil galt als erstrebenswert. Auch wenn sie in ihrem Innern kleingeistige Biedermänner waren, imponierten sie doch nach außen mit dem Anschein von Modernität, Weltläufigkeit und Fortschrittlichkeit. Ihre Größenvorstellungen blendeten die mörderische Realität ihres Tuns aus.

Im Mittelpunkt stand für diese Menschen immer der Männlichkeits-Mythos, also das, was einem verbreiteten Vorurteil zufolge als "männlich" gilt: Stärke, Entschlossenheit, Unempfindlichkeit, Heldentum. Natürlich geht es dabei nicht um wirkliche menschliche Stärke. Diese hat ja etwas mit einer inneren Festigkeit zu tun, die unter anderem daraus erwächst, daß man sich mit Schmerz konfrontieren und mit diesem umgehen kann. Bei dem Männlichkeits-Mythos dagegen geht es immer um die Pose, um die Fassade, das "So-tun-als-ob", wo in Wahrheit nichts ist. Hitler gab, wie die meisten in der Nazihierarchie, eine perfekte Verkörperung des starken Mannes ab, obwohl er in Wahrheit ein schwacher Mensch war. Deshalb wurde er auch drogenabhängig, wie sein Leibarzt Theodor Morell in einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel bestätigte.

Schmerz und Verzweiflung konnte dieser Mann nicht ertragen. Die Jagd nach Größe und Unverwundbarkeit war der Weg, der Konfrontation mit dem Schmerz aus dem Weg zu gehen und diesem zu entkommen. Seine "Mitspieler" wollten das gleiche, und sie glaubten, durch die Versprechungen von Stärke selbst Erlösung von Schmerz und Unbehagen zu finden. Dieser Schmerz und dieses Unbehagen hatten ihren Ursprung in einem Selbstverrat, der bereits einsetzte, als sie sich dem Diktat von Eltern, die sie in ihrem eigentlichen Sein verleugneten, unterwarfen.

Der Schein rettete diese Menschen vor der Konfrontation mit ihren Schattenseiten. Das ist heute nicht anders, die Prozesse treten nur anders in Erscheinung. Der deutsche Schriftsteller Carl Amery bezeichnete Hitler zu Recht als einen Vorläufer des 21. Jahrhunderts. Solche Menschen blenden mit spektakulären Kulissen. Dabei täuschen sie häufig in eindrucksvoller Pose Menschlichkeit, Mitgefühl und soziale Absichten vor. Hitler verstand es, sich auf seinen Nürnberger Reichsparteitagen als Kult zu inszenieren. Auch wir lassen uns durch mediale Events etwas vormachen. Fast alle Politiker sind heute Darsteller einer Rolle, die ihre Public-Relations-Berater bis ins kleinste Detail festgelegt haben. Die Auftritte von George W. Bush werden gezielt als kultisch überhöhte Ereignisse in Szene gesetzt. So entsprechen sie der Suche seiner Anhänger nach Größe und Erhabenheit und verheißen diesen einen Weg aus der eigenen Misere.

Die Nazi-Zeit liefert anschauliche Beispiele für Menschen, die keinen Bezug zu ihrem eigenen Sein und ihrem Schmerz haben und deshalb auch ohne Mitgefühl für das Leid anderer sind. Aber auch in unserer Zeit begegnen uns Menschen dieses Typs, wir erkennen sie nur häufig nicht als solche. Es sind nicht nur die neuen Rechten, die sich mit Heavy Metal volldröhnen und mit Springerstiefeln durch die Straßen marodieren. Auch unter den Vertretern der "jungen Elite", die sich zunehmend in Politik, Wirtschaft oder Medien durchsetzt, finden wir Menschen, die ohne Gefühl für sich und andere sind. Sie haben mit den jungen Anhängern der SS vieles gemein. Arrogant, opportunistisch und aalglatt verfolgen sie nur ein Ziel: Sie wollen nach oben kommen. Dazu ist ihnen fast jedes Mittel recht. Für die "Loser", die zurückbleiben, haben sie nur Verachtung übrig.

Die Wurzeln der Unemschlichkeit

Für die meisten von uns ist es schwer vorstellbar, daß Menschen, die eigentlich ganz normal wirken, ohne das geringste Mitgefühl und ohne Reue einen anderen quälen und sogar töten können. Wir glauben, jeder Mensch sei ansprechbar für moralische Werte, mitmenschliche Gefühle und vernünftige Argumente. In Wahrheit jedoch "funktionieren" Menschen, die durch ihre frühesten Erfahrungen zum "Unmenschen" gemacht wurden, nicht nur in psychologischer, sondern auch in physiologischer Hinsicht ganz anders. Auch wenn sie überzeugend die Maske der Menschlichkeit tragen, fehlt ihnen jedes moralische Empfinden und jedes Gefühl für andere.

Unmenschlichkeit ist das Ergebnis einer Sozialisation, in der die Gefühle und die empathischen Fähigkeiten eines Kindes verachtet und als Schwäche abgetan werden. Ein Kind, das in einer solchen traumatischen Situation aufwächst, muß sich immer mehr von seinem Eigenen distanzieren und dieses als etwas Fremdes ablehnen. Diese Entwicklung manifestiert sich auch im ständigen Wechselspiel zwischen psychischem Erleben und strukturellen organischen Prozessen. Ein Mangel an Liebe und Fürsorge führt im Organismus zu enormem Streß. Solche Erfahrungen hinterlassen "Narben" im Gehirn.

Wenn eine Mutter ihren Säugling liebevoll umhegt und einfühlsam auf seine Bedürfnisse eingeht, wird im kindlichen Organismus das Hormon Sekretin ausgeschüttet. Dieses Neuropeptid baut Streß und Spannungen ab, die das Kind in seiner Entwicklung ja immer wieder erlebt. Auf diese Weise wird auch die positive Bindung zwischen Mutter und Kind gestärkt. Eine solche Bindung, in der die Bedürfnisse des Kindes und nicht die der Eltern im Vordergrund stehen, fördert die Entwicklung empathischer Vorgänge. Diese werden zur Basis des kindlichen Selbst. Das Kind kann sein eigenes Erleben als Teil seiner Identität integrieren und muß es nicht als ungeliebt abspalten.
Etwas ganz anderes geschieht, wenn Eltern nicht adäquat auf die kindlichen Bedürfnisse eingehen. Die empathischen Fähigkeiten werden unterdrückt und können sich nicht entwickeln. Das Kind gerät in einen Zustand von Hilflosigkeit, Wut und ständiger Anspannung. Dieser extreme Streß kann nicht bewältigt werden. Um psychisch zu überleben, muß dieses Kind seine Gefühle aus seinem Erleben verbannen und abspalten. Das gilt vor allem für das Erleben von Schmerz und Verzweiflung. Für solche Kinder sind Schmerz und Leid so groß und überwältigend, daß sie nur durch ein völliges Ausschalten und Abspalten dieser Gefühle überleben können.

Im menschlichen Organismus sind es sogenannte Endorphine, die das Empfinden von Schmerz und Unglück dämpfen. Diese körpereigenen Morphine, umgangssprachlich auch "Wohlfühlhormone" genannt, werden unter anderem dann ausgeschüttet, wenn wir Zärtlichkeit und Liebe erfahren. Bei Kindern, die zurückgewiesen und mißachtet werden, kommt dieser natürliche "Schutzschild" gegen zu großen Schmerz also erst gar nicht in Gang. Deshalb erleben solche Kinder Leid als so überwältigend, daß sie es nur durch Abspalten und Verwerfen ihrer Gefühle ertragen können.

Solche Menschen sind ihr Leben lang auf der Flucht vor allem, was diesen Schmerz wieder zum Leben erwecken könnte. Aus diesem Grund sind sie auch nicht in der Lage, ihn bei anderen Menschen empathisch wahrzunehmen und mitzufühlen. Im Gegenteil: Was bei einem "normalen" mitfühlenden Menschen Verständnis, Anteilnahme und Zuneigung auslöst, weckt in ihnen die Mordlust. Sie müssen töten, was in ihnen menschliche Gefühle auslöst. Vor dieser Tatsache dürfen wir nicht die Augen verschließen, wenn wir es ernst meinen mit unserem Bemühen um Frieden. Es ist unser Umgang mit dem Schmerz, der darüber entscheidet, ob die menschliche Entwicklung eine destruktive oder eine friedliche Richtung nimmt.

Menschen, die das Mörderische in sich tragen

Unsere Gesellschaft blendet die alltägliche Realität des Leidens meistens aus. Schmerz, ob physisch oder psychisch, wird, wie bereits ausgeführt, in einer auf Leistung, Größe und Kraft fixierten Welt als unliebsame Schwäche betrachtet. Politische Diskussionen über die Kürzung von Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall sind hier ein aktuelles Indiz. Krankheit paßt nicht in das gesellschaftlich bevorzugte Leistungsmodell, sie wird als Schwäche abgetan und kann deshalb bestraft werden. Die Verachtung des Schmerzes als Schwäche ist ein Problem, von dem wir alle – mal mehr, mal weniger –betroffen sind. Ich erinnere mich an eine Patientin, die es sich kaum verzeihen konnte, einmal darunter gelitten zu haben, daß ihre Mutter sie sadistisch behandelte. Sie schämte sich für ihr Leid und fürchtete, ich würde sie dafür ablehnen. Wenn Eltern schmerzhafte Gefühle ihres Kindes als unberechtigt oder unwahr abtun, bleibt dem Kind nichts anderes übrig, als sich von seinen Gefühlen zu distanzieren. Es muß sich in seinen Schmerzen als Schwächling sehen und fühlen und sich dafür schämen.

Wie aber können Menschen so sehr von ihrem Eigenen entfremdet werden, daß sie andere töten? Ich möchte dies am Beispiel eines Gewaltverbrechers erklären. Broadmoor ist ein psychiatrisches Gefängnis in England, in dem vor allem psychotische Mörder einsitzen. Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit, einige von ihnen zu interviewen. In besonderer Erinnerung blieb mir folgender Fall: Der Mann hatte mehrere Menschen getötet, weil er, wie er sagte, "ihr Leben brauchte", um sich für einen Moment selbst lebendig zu fühlen. Ohne mit der Wimper zu zucken erzählte er mir, daß seine Mutter ihn als Dreijährigen mit kochend heißem Wasser übergossen hatte. Er empfand nichts bei dieser Erinnerung. Seinen Schmerz hatte er weggesteckt und eingemauert, um mit einer derart tödlichen Mutter leben zu können. Doch er spürte ständig das Bedürfnis, anderen Schmerzen zuzufügen. Auf diesem Wege konnte er den Schmerz, der ihm selbst abhanden gekommen war, wieder finden und den anderen dafür bestrafen, daß er ihn erlitten hatte. Er bestrafte sein Opfer quasi stellvertretend für sich selbst und den eigenen Schmerz, den er einmal empfunden hatte und nicht fühlen durfte.

Das ist es, was alle destruktiven Menschen, vom Rechtsradikalen bis zum Sektenfanatiker, vom Welteroberer bis zum skrupellosen Globalisierungsmanager zu ihrem menschenverachtenden Tun antreibt: Es ist ihr Bestreben, des eigenen abgespaltenen Schmerzes habhaft zu werden und andere dafür zu bestrafen, daß man einmal selbst so schwach war und gelitten hat. Solche Menschen zerstören, um zu leben, um die Leere zu füllen, die in ihrem Inneren entstand, als man ihnen ihr Eigenes nahm. Manche töten tatsächlich, um die Leere zu füllen. Andere tun es indirekt, indem sie der Größe verfallen und Menschen durch Erniedrigung in ihrem Sein zerstören.
Klaus Barbie war ein besonders grausamer Scherge des Naziregimes. Als Gestapochef in Lyon brachte er französische Widerstandskämpfer mit eigenen Händen um. Auch Jean Moulin, ein berühmter Résistance-Anführer und Kämpfer gegen die Nazis, starb unter seinen Folterungen. Als Barbie, der sich nach dem Krieg nach Südamerika abgesetzt hatte, von einem Journalisten zu dieser Tat befragt wurde, sagte er: "Als ich Jean Moulin vernahm, hatte ich das Gefühl, daß er ich selber war."

Was dieser Schlächter seinem Opfer antat, tat er in gewisser Weise sich selbst an. Er gab den Haß auf sich selbst weiter, indem er andere tötete. In der Person Jean Moulin hatte er jenen Teil seines eigenen Selbst gespürt, das einmal Liebe benötigte, das jedoch dazu gebracht wurde, sich für dieses Bedürfnis schwach und mangelhaft zu fühlen. Für solche Menschen ist Leben gleichbedeutend mit Krieg und Gewalt.

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