Auszüge aus Arno Gruen's
"Verratene Liebe – falsche Götter"

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Anstatt eines Vorworts

Der Schmerz war und ist groß. Dieses Buch zu lesen, setzt eine persönliche Konfrontation mit dem täglich verbannten Leid voraus, das uns allen unerträglich geworden ist.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist die Geschichte eines ungeheuren Schmerzes und dessen Verleugnung. Damit verbunden ist die Unmöglichkeit, lieben zu können. Denn: Schmerz ohne Liebe, Liebe ohne Schmerz gibt es nicht. Sie sind wechselwirkend miteinander verbunden durch die empathische Fähigkeit, die unsere Menschlichkeit bestimmt und erst möglich macht.

Es ist mehr als kurz vor zwölf. Nicht erst die kriegerische Konfrontation 1991 am Persischen Golf brachte uns dieser Verheerung näher. Solange wir wegsehen, uns vom Leid abwenden, ja das Leid verneinen, obgleich wir es tagtäglich erleben, werden wir solchen Katastrophen nicht ausweichen können.

So richte ich mich an jene, die noch hören wollen, jene, die noch zweifeln können, die verletzbar sind, die sich noch nicht daran gewöhnt haben, ihren Schmerz zu verbannen, ihn deswegen tragen können. Bei ihnen liegt unsere Hoffnung. Sie haben das Potential der wahren Stärke, sich und somit die Welt zu retten.

Es ist nach zwölf. Die Welt steht wieder am Persischen Golf erneut vor einer Katastrophe, deren Ausmaß dieses Mal durch den von ihr erzeugten Haß alles zu vernichten droht. Wieder geht es um verratene Liebe, wieder sind es falsche Götter und falsche Helden, die uns dorthin führen. Sie maßen sich an zu wissen, was für uns alle richtig ist. Ein blutiger und demütigender Krieg wird weder den USA und England noch der Welt Sicherheit bringen. Er wird vielmehr die Flammen eines Hasses schüren, der nicht mehr zu tilgen ist und der den Terror endlos nähren wird. Und Terror, unter welchem politischen, ideologischen oder religiösen Deckmantel er sich auch zu tarnen versteht, ist immer das Resultat eines Hasses auf das Leben selbst. Er ist ein Bündnis mit dem Tod.

Es scheint mir, daß unser Hang, dem Aggressor beizutreten, der wesentlichste Aspekt unserer gegenwärtigen Lage ist. Dadurch zementieren wir den Gehorsam. Dieser fesselt den Menschen und ist zugleich die Quelle einer unendlichen Wut und der Neigung zur Gewalt. Ihm angemessen und besser entgegentreten zu können, gehört zum Anliegen dieses Buches. Denn wenn wir nicht lernen, unsere eigene Geschichte, unsere eigene Vergangenheit in die Zukunft hineinzunehmen, dann wird es bald keine Zukunft mehr geben. Dann wird nur noch der Tod das Leben bestimmen. Das tut er ja schon, wenn man uns weismacht, daß das Leben durch ökonomische Ziele bestimmt werden kann. Es ist das Zwischenmenschlich-Gemeinschaftliche, das wir wieder zurückholen müssen. Und die Zeit läuft uns davon.

Dieses Buch verkörpert auch meine persönliche Hoffnung für meine Tochter Zoe Gruen und mein Enkelkind Zoe Rosenberg-Gruen. Indem es ihrer Zukunft gewidmet ist, ist es allen unseren Kindern gewidmet.

Ich möchte allen meinen Patienten danken, deren eigener, oft verzweifelter Kampf um ihre persönliche Wahrheit mir Anstoß und Anlaß zu den hier entwickelten Ideen war und bleibt.Mein Dank geht auch an Suzanne Maiello, Martti Siirala und Christa Wolf. Sie alle lasen Anfang der neunziger Jahre das Manuskript im Werden zum Buche und trugen zur Schärfung und Ermutigung bei. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch dem Personal der Luzerner Zentralbibliothek danken für seine unermüdliche und freundliche Hilfsbereitschaft. Helmut Holzapfel danke ich für seinen persönlichen Einsatz, das vorletzte Kapitel "Über den Gehorsam" verständlicher zu gestalten. Mein Dank geht in ganz besonderer Weise an meine Lektorin Monika Schiffer für ihren Einsatz und ihr Verständnis. Immer wieder gelingt es ihr, meine Gedanken so im Deutschen auszudrücken, wie ich sie im Amerikanischen gedacht und formuliert hatte.

Prolog: Über unsere leidvolle Geschichte mit falschen Göttern

Geschichte dreht sich um Helden, um "große" Männer und manchmal um "große" Frauen. Wir bauen Denkmäler und finden das auch noch richtig. Aus der Annahme, es gäbe Größe im Sinne von großen Gestalten oder Führernaturen, die tatsächlich unsere geschichtliche Entwicklung bestimmen würden und bestimmt hätten, gehen zwei Grundhaltungen menschlichen Fühlens und Denkens hervor: Sie lenkt das Bewußtsein ab von der eigentlichen Natur des Menschen, und zugleich "hilft" sie den Menschen, ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung zu entkommen. Das macht Menschen zum Werkzeug derer, die nach "Größe" streben.

Geschichte, so wie wir sie in der Schule lernen, entfernt sich damit von der Wahrheit um den Menschen.

Wir lernen zu akzeptieren, daß Größe die Triebkraft unserer "Entwicklung" ist, weil es unserem Bedürfnis nach Selbstverleugnung entspricht. Wir sind so sehr davon überzeugt, daß wir sogar bereit sind, uns schuldig zu fühlen. Um der Entwicklung willen lassen wir die Zerstörung der Natur zu. Entwicklung heißt Größe, und für Größe opfern wir alles, denn nur "Größe" rettet ein unbedeutendes Selbst.

Die Wahrheit, die von der "Geschichte" vertuscht wird, ist die Wahrheit über die Natur des Menschen. Hinter dem Trieb nach Größe steht jedoch die Unfähigkeit, mit Hilflosigkeit umzugehen. Und diese Unfähigkeit läßt das Schamgefühl verkümmern. Menschen, die fähig sind, sich zu schämen, werden aus Großmannssucht weder die Natur noch das Leben mißachten. Der Schlüssel zur menschlichen Natur liegt deswegen nicht im Schuldgefühl, sondern in der Scham darüber, daß Menschen im Namen des Menschseins das Leben zerstören.

Der Holocaust wirft die Frage auf: Wie konnten Menschen etwas tun, so daß sich sogar Gott entfernen mußte? George Steiner schrieb:

Die Vernichtungslager, die Aschenhügel sind Ausdruck davon, daß es kein Abkommen zwischen Gott und Mensch mehr gab. Der Gott, der nicht in Auschwitz oder Belsen war ...

Es war nicht nur das Leben, das verbrecherisch zerstört wurde. Der Haß, der dieses Zerstören antrieb, richtete sich gegen das Transzendentale in uns, unsere Fähigkeit, keine Maschinen, sondern individuelle Wesen zu sein. Nicht Summierung von Teilen, sondern kreative Integration kennzeichnet das Menschsein.
Das Ungeheuerliche des Holocausts war die Rache derer, die das Menschsein haßten, eine Rache gegen die Individualität, die auszurotten sie sich berechtigt fühlten. Menschen wurde ihr Name genommen und durch eine Nummer ersetzt. Individualität sollte ausgelöscht werden. Der Mensch wurde zum Besitz, durch den das Selbstwertgefühl des Besitzers erhöht werden sollte. Dieser Art von Magie verfällt ein Täter ohne Person, und er muß seine Opfer zu Unpersonen machen, um sich selbst fühlen zu können. Nur ein Opfer fühlt die bodenlose Verzweiflung, wenn das Ich, das noch Ich ist, auf kein Echo stößt.

Paul Celan schrieb in seinem Gedicht Psalm die Verse:

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
Niemand bespricht unseren Staub.
Niemand,
...
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die Niemandsrose.

Das sollte der Grund sein für unsere Scham. Und solange wir uns dieser Scham nicht stellen, weil uns der "Fortschritt" blendet, wird die "Geschichte" sich wiederholen. Menschen, die Menschen zum Eigentum oder zur Funktion reduzieren, hat es immer gegeben. Tschingis Aitmatow schildert in der Erzählung Ein Tag länger als ein Leben3 eine solche Entwicklung an den Mankurts, Sklaven des Juanjuan-Stammes in der Say-Osek- Steppe. Durch ein sadistisches Vorgehen wurden sie um das Bewußtsein ihres Ichs gebracht, wußten nicht, wer sie waren, woher sie stammten, erinnerten sich nicht an die Kindheit, nicht an Mutter oder Vater. Aber ihr Leben hatte noch Wert, und deswegen wurden die Bedürfnisse ihres Leibes anerkannt.

Das Auslöschen eines Wesens zu einem Nichts ist ein Charakteristikum der Entwicklung im Dritten Reich: Es geht hier nicht nur um Barbarismus. Es geht hier um den Grad der Verkommenheit der Täter als Ausdruck einer ganzen Epoche, ihrer herrschenden Clique und ihrer Mitläufer. Nur das Mörderische zu sehen bedeutet, die Steigerung nicht zu sehen, die Steigerung der Rache der Liebesunfähigen gegen das Menschsein. Die Steigerung des Selbsthasses wurde in Deutschland durch die Nazis in seiner ganzen Perversion offenbar. Selbsthaß führt dazu, andere zu reduzieren, um durch Rache am Menschsein ein eigenes Sein zu erhalten.

Jean-Paul Sartre schrieb 1946 in seiner Arbeit über den Antisemitismus: Wenn man einen anderen seiner Identität beraubt, gelangt man ohne Anstrengung und Mühe zu einer eigenen, falschen Identität. Sartre sah aber nicht, daß das Auslöschen der Person im anderen für den Zerstörer bedeutet, am Leben zu sein.

Menschen, die ihr Lebensgefühl aus Unterdrücken, Besitzen und Herrschen beziehen, bestimmen die Geschichte. Mir scheint, daß Geschichte ein mühsamer Kampf ist zwischen jenen, die dem Leben verbunden sind, und den zerstörerischen Kräften der Nichtgeliebten. Geschichte als dialektischer Vorgang spiegelt dies in ihrer Entfaltung nicht einfach wider.

In bezug auf menschliche Entwicklung ist die Idee einer angehenden moralischen Entwicklung von Urzeiten her ein Mythos. Er dient dazu, unsere moralischen Defekte zu verdecken und zu schönen. Die Behauptung von menschlicher Primitivität unserer Vorfahren hat keine Basis. Der Mensch trägt von Geburt an alle Fähigkeiten in sich, die über sein Sein entscheiden. Entweder seine Empathie wird zum Kern seines Seins, oder er wird ihr dauernd entkommen wollen. In diesem Sinne ist menschliche Entwicklung immer die Geschichte der Schädigung seiner menschlichen Anlagen.

Menschlich zu werden ist relativ einfach. Es ist das Böse im Menschen, das eine komplizierte Entwicklung braucht. Brecht sagte einmal: ... wie anstrengend es ist, böse zu sein.

Der Mensch, der mit seinem Inneren in Verbindung bleibt, ist ein integrierter Mensch und handelt auch danach. Der nach außen verlagerte Mensch hat ein gespaltenes Bewußtsein und eine gespaltene Wahrnehmung. Sein Wirken wird immer gegen das Ganzheitliche gerichtet sein und bei allem technischen Fortschritt gegen das Leben verstoßen.

Wie schon betont, ist die Empathie der ursprünglichste Weg der zwischenmenschlichen Kommunikation. Forschungen auf dem Gebiet der Neurologie zeigen genau diesen Zusammenhang: Das Erlernen der Sprache bringt abstrakte, unverbalisierte Denkvorgänge mit sich, die unsere empathischen Wahrnehmungen verdrängen und zerstören. Erst mit einer Sprachhemmung, ausgelöst von einer Gehirnschädigung, kommen Menschen auf ihre früheren Wahrnehmungsmöglichkeiten zurück.

Da die rechte Hirnhälfte für die Integration der Gefühlserlebnisse und die linke für das logische Denken zuständig ist, läßt sich diese Interaktion zwischen kulturell bestimmter Wahrnehmung und empathischem Grundgefüge besonders deutlich bei vielen neurologischen Patienten erkennen. Martin Keller, ein Schweizer Neuropsychologe, schildert seine Erfahrung mit Patienten, die an einer strukturellen Spaltung der Gehirnsphären leiden, so:
Die linke Seite versteht nicht, was die rechte wahrnimmt. Wenn das spontane Emotionale nicht ins logische Schema paßt, muß es immer noch im Rahmen des schon programmierten Denkens erfaßt werden.

Keller äußert die Vermutung, daß bei diesen Menschen gerade die rechte Hirnhälfte von einem Schlaganfall betroffen wurde, weil die hier angesiedelten emotionalen und spontanen Wahrnehmungen sie am meisten quälten. Meine Arbeit mit solchen Patienten bestätigt die Schlußfolgerung, daß rigide Denkweisen und Charakterstrukturen einen Schlaganfall begünstigen. Die Verdrängung des Empathischen gehört als wichtiger Bestandteil zu unserer geschichtlichen Entwicklung.

Geschichte entsteht aus der Interaktion derer, die Territorien, die Natur und andere Menschen erobern müssen, um sich zu bewahren, und denen, die an falschen Göttern hängen, um sich ihren Zusammenhalt zu sichern. Anders gesagt: Die einen lehnen in ihrer Großmannssucht jegliche Verantwortung für ihre Mitmenschen ab, und die anderen haben keine Kraft für Verantwortung, weil sie das Böse benötigen, um sich ihm zu unterwerfen.

Diese zwei miteinander vernetzten Gruppierungen werden zu den Triebkräften der Gewalt in der menschlichen Geschichte. Sie bewegt nicht der Fortschritt oder das Leben, sondern sind gegen das Leben eingestellt – sie bewegt das Anti-Leben. Da das Anti-Leben immer in Bewegung sein muß, um sich lebendig zu fühlen, vermittelt es den Anschein des Lebendigen. Erich Fromms Empirische Untersuchungen zum Gesellschaftscharakter lassen Rückschlüsse über die Verbreitung dieser feindseligen Eigenschaft in unserer Gesellschaft zu.

Empirische Forschungen haben gezeigt, daß sich viele Eigenschaften und Merkmale von Lebewesen entsprechend der Gaußschen Normalverteilung verhalten. Diese Häufigkeitsverteilung hat drei Standardabweichungen vom Mittelwert: Auf die Bereiche innerhalb der ersten Standardabweichung rechts und links vom Mittelwert entfallen jeweils 34 Prozent der gemessenen Merkmale, auf den zweiten Bereich kommen knapp 14 Prozent und auf den dritten, also in der größten Entfernung vom Mittelwert an den Enden der Kurve, jeweils 2 Prozent.

Auch Charakteristika wie Lebensfeindlichkeit beziehungsweise Lebenszugewandtheit verteilen sich auf diese Weise. Eine derartige Statistik von "Anti-Leben" versus "Pro-Leben" wird in meinem Buch Der Fremde in uns (2000)beschrieben. Ich gehe dort näher auf die Studie von Henry Dicks (1950) mit deutschen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg ein. Das Ergebnis war eine Gaußsche Normalverteilung, an der sich zeigt, daß das Ausmaß der erlebten elterlichen Liebe eine dem Leben zugewandte oder entgegengewandte Haltung bestimmt. Wenn sich unseren klinischen Erkenntnissen zufolge der Erfahrungsbereich "Liebe und Zuwendung während der Kindheit" als ein Kontinuum verstehen läßt, an dessen einen Ende das Erleben von Nichtliebe und am anderen das Für-sich-Geliebtwerden steht, dann dürfen wir annehmen, daß Fromms Forschungsergebnisse statistisch einer Gaußschen Kurve entsprechen. In Fromms Untersuchung des Gesellschaftscharakters eines mexikanischen Dorfes zeigte sich, daß 5 Prozent dominant destruktiv waren, 16 Prozent dominant autoritär. Dies stimmt mit dem überein, was man statistisch auf der Basis der Normalverteilung erwarten würde, also die ersten zwei Abweichungen (2 Prozent plus 14-16 Prozent). Wenn wir dies extrapolieren auf die Bevölkerung in Gesellschaften, die Herrschen und Besitzen fördern, dann können wir erwarten, daß 16 Prozent der Bevölkerung zum Anti-Leben gehören und durch Nicht-Liebe geformt wurden.

Fromm beschreibt die autoritär-ausbeuterischen Dorfbewohner in seiner Studie als Menschen, die das Leben erleben wie "einen Dschungel, wo (sie) andere fressen müssen, um nicht selbst gefressen zu werden". Er stellte fest, daß ihr Narzißmus sie davor bewahrte, sich über ihre ausbeuterischen Motive gegenüber den anderen Dorfbewohnern klarzuwerden. Sie glaubten, daß positive bewußte Werte ihren eigentlichen Handlungsweisen zugrunde lagen. Fromm fand auch zwei Gruppierungen innerhalb der ausbeuterischen Gesamtheit: Die dominant ausbeuterischen, die er "produktiv", und die sekundär ausbeuterischen Bewohner, die er "nichtproduktive" nannte. Die ersteren sind die Führer, die Unternehmer, die die anderen lenken. Fromm schreibt:

Die ausbeuterischen Unternehmer gehören zu den am stärksten entfremdeten Dorfbewohnern. Unserer Erfahrung nach haben sie trotz ihrer materiellen Erfolge weniger Freude am Leben als irgendwer sonst. Sie sind gegen die Fiestas, das Wohlergehen anderer interessiert sie nicht, wenn es ihnen keinen Profit bringt ... Die meisten dieser Männer üben einen destruktiven Einfluß auf ihre Kinder, ihre Ehefrauen und die übrigen Dorfbewohner aus.

Diesen etwa 16 Prozent stehen am anderen Ende der Skala etwa 16 Prozent durch Liebe geformte Menschen gegenüber. Die ungefähr 64 Prozent in der Mitte sind das Ziel der dem Leben sowie dem Anti-Leben Verpflichteten. Sie sind diejenigen, deren Umwerbung das politische Leben kennzeichnet.
Das Paradox ist, daß die, die am meisten gegen das Leben verstoßen, so oft zu Göttern erkoren werden – zu den falschen.

Die menschliche Sucht nach Erlösern ist so alt wie die Geschichte der Menschheit und so alt wie die Lieblosigkeit, die gewalttätig macht. Solange wir aber das Zerstörerische und Lieblose in uns nicht erkennen, werden die Verachtung und der Haß auf das Leben, die dieses Verneinen fördern, für politische Zwecke mißbraucht werden.

Falsche Götter sind beides: Erzeugnis wie auch Erzeuger einer vergeblichen Suche nach einer Identität, die uns rettet. Solange wir uns der uns umgebenden Lieblosigkeit nicht wirklich stellen, werden wir zu keiner eigenen, in uns ruhenden Identität gelangen. In diesem Fall muß Identität auf einem äußerlichen Gehege basieren: Rollenspiele und zur Schau getragene Haltungen, in denen das Posieren von Gefühlen und Werten an die Stelle einer inneren Identität rückt. Dadurch werden Menschen in eine Abhängigkeit von äußeren Strukturen getrieben – wie Status, Besitz, Ordnung, Pflicht und Gehorsam. Wenn diese Strukturen durch ihre Eigendynamik ins Wanken geraten, brechen die Menschen, die ihre Identität darauf aufgebaut haben, auseinander. Das ist der Nährboden, der falsche Götter nicht nur zuläßt, sondern begünstigt! Das Göttliche, das Erlösende, das Menschen suchen, wird außerhalb eines eigenen Seins gesucht.

Jakob Böhme schrieb:

Darum sehe ein jeder zu, was er thut! Es ist ein jeder Mensch sein eigener Gott ... Er formet (ihm) in seinen Willen selbst ein Centrum zu seinem Sitze.

Er verstand, daß Gott nur da Einzug halten kann, wo der Mensch sein Selbst hat. Gott und Selbst stehen in einer Wechselbeziehung, die auf Ebenbürtigkeit baut. (Das ist nicht dasselbe wie Gleichsein!)

Wenn aber die Suche nach Erlösung davon bestimmt ist, daß man den eigenen Kern der erlebten Lieblosigkeit und Gewalttätigkeit leugnen möchte, dann kann das eigene Selbst nicht gefunden werden. Man sucht dann einen Erlöser, um von den Folgen der eigenen Selbstverachtung und des Selbsthasses befreit zu werden. Das definiert die Entwicklung und den Werdegang der falschen Götter.

Diese hat es immer gegeben, und immer haben sie die Menschheit in die Katastrophe geführt: Robespierre, Napoleon, Bismarck, Hitler, Mussolini, Stalin, Kennedy, Johnson, Nixon, Reagan, Thatcher, Saddam Hussein und viele andere ungenannte sind nur einige Beispiele dafür.

Es geht in diesem Buch um beide: um die, die Erlöser benötigen, und um die anderen, die sich zu falschen Göttern erheben. Beide sind eingebettet in gesellschaftliche, politische wie auch ökonomische Strukturen, die verhindern, den Teufelskreis ihrer Verletzung zu durchbrechen.

Ich möchte versuchen, einen Ansatzpunkt zu finden, der diesen Teufelskreis durchbrechen kann. Ohne die Bedeutung der Umstrukturierung der gesellschaftlichen Formen leugnen zu wollen, benutze ich einen anderen Hebel: einen, der sich im Grunde genommen auf die Analyse der Bedingungen stützt, unter denen Liebe entsteht. Wird diese Fähigkeit zur Liebe früh gebrochen, entwickeln sich Menschen, die nie zu sich selbst finden werden.

Die Lehre Christi ist hier unausweichlich, denn sie zeigt uns, was uns durch Liebe möglich ist. Dadurch diagnostiziert sie auch, worum es geht, wenn die Liebe verzerrt wird. Tschingis Aitmatow hat dies in einem fiktiven Gespräch Jesu mit Pontius Pilatus dargestellt. In seinem Roman Der Richtplatz sagt Jesus:

Du hast ... vorerst keinen Bedarf, römischer Herrscher, du erduldest keine Leiden und hast kein Verlangen nach einer anderen Lebensweise. Die Macht ist dein Gott und Gewissen. Daran hast du aber keinen Mangel. Und Höheres gibt es nicht für dich.

Aus diesem Grund werde ich mich viel mit der Liebe beschäftigen. Denn das Problem unserer Unfähigkeit, richtig und ganz zu lieben, Angst zu haben, Liebe anzunehmen wie auch die Nähe eines anderen zu tolerieren (obgleich wir glauben, sie zu wollen), all dies ist untrennbar verbunden mit dem Problem der Sucht nach falschen Göttern und nach Erlösung.

Das Schicksal der Entwicklung der Liebe in unserer Kultur wird so zum Grundstein und zum Ausgangspunkt meiner Analyse werden.

Die Schuld wird zur "Rettung"

Wir alle wollen Liebe. Tatsächlich aber gehen viele lieblos mit sich selbst und anderen um. Trotzdem wollen auch sie Liebe. Andere dagegen lehnen dieses Bedürfnis ab. Manche hassen sich selbst oder andere dafür. In dem Maße, wie das Bedürfnis nach Liebe zu einem Verhängnis für den einzelnen wird, gefährden solche Menschen uns alle. Sie lassen uns nicht in Frieden. Sie stiften Unruhe, um sich aus der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage zu befreien.

Diese Menschen spüren im Destruktiven und Tödlichen ihre Form der Lebendigkeit. Nicht Liebe, sondern Haß läßt sie sich selbst spüren. Jakob Wassermann beschrieb dieses Problem schon in den dreißiger Jahren in seinem Roman Christian Wahnschaffe. Der Mörder Nils Heinrich Engelschall kann sich nur dann groß vorkommen und sich erleben, wenn er etwas Heiliges und Reines packt, um es niederzuzwingen, auszulöschen und zu zerschmettern. Denn derjenige, der lieblos aufwächst, fühlt sich klein und bedeutungslos.

Um sich auf diese Art spüren zu können, muß ein solcher Mensch dauernd in Bewegung sein. Die Bewegung selbst verleiht den Anschein der Lebendigkeit. Immerzu sind solche Menschen von etwas Neuem getrieben, darin sehen sie ihre Lebensquelle. Die römischen Gemetzel im Kolosseum und die politischen und sportlichen Massenveranstaltungen unserer Zeit sind Ausdruck dieser Art von Lebendigsein.

Wir wollen es nicht wahrhaben, aber es ist die Lieblosigkeit, die uns gewalttätig macht. Weil wir das Zerstörerische und das Lieblose in uns vereinen, können Verachtung und Haß auf das Leben für politische Zwecke mißbraucht werden. Die Securitate-Truppen von Nicolai Ceauşescu, die auf grausamste Art und Weise gegen das rumänische Volk vorgingen, wurden aus ehemaligen Waisenkindern rekrutiert. Gezielt wurden Menschen, die vom Liebesentzug sehr früh entstellt waren und Hoffnungslosigkeit zutiefst erlebt hatten, zum Töten erzogen. Und das von Menschen, die unter dem Deckmantel der väterlichen Liebe Kinder verachteten.

Liebe und Haß sind eng miteinander verbunden. Der, der sich selbst liebt, wird andere lieben können und nicht dem Haß verfallen. Doch der von Haß Getriebene, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist oder ihn verneint, wird nicht lieben können. Solch ein Mensch mag von Liebe sprechen und sich ihr sogar ergeben denken, aber seine "Liebe" wird alles, was lebendig ist und wächst, verzerren. Tief verbunden mit diesem Haß ist die Verachtung für das Leben.

Menschen, die keine Liebe erlebt haben, können sich nicht selbst lieben und empfinden sich deshalb als ungenügend und unbefriedigend. Dennoch sind wir verwirrt, wenn es darauf ankommt, Liebe zu erkennen. Unsere Kultur fördert eine gesellschaftliche Sicht, die den Zugang zum eigentlichen Sachverhalt der Liebe verschleiert, die die Wahrheit unseres Gefühlslebens verdreht. Wir leben in einer Kultur des Rollenzwangs. Wir sehen und empfinden uns als liebend, ohne daß eine echte Forderung zu lieben tatsächlich besteht. Im Gegenteil, das Menschsein wird nicht gefördert.

Mütter und Väter zum Beispiel glauben sich in der Rolle liebender Eltern, weil sie ihre Kinder als Wunschkinder bezeichnen. Wer diese Auffassung als Ausdruck tatsächlicher Liebe in Frage stellt, verstößt gegen die gesellschaftliche Sicht der Idealisierung der Mutter-Vater-Kind-Beziehung.

In Wahrheit jedoch – das zeigt eine Studie der finnischen Psychologin Pirkko Niemelä – wird diese idealisierende Mutter-Kind-Vorstellung (das Wunschkindimage) gerade von denen propagiert, die ihre negativen Gefühle gegenüber dem Kind nicht sehen wollen, aus Gehorsam zum Bild, das die Gesellschaft von einer "guten" Mutter vermittelt. Dieser Rollenzwang isoliert die Mutter von ihren wahren Gefühlen und von den Gefühlen ihres Kindes. Je verzweifelter sie sich in ihrem Innern fühlt, desto weniger wird sie sich das selbst wissen lassen. Das Resultat für solch eine Mutter und ihren Ehepartner ist eine Flucht nach vorn, wodurch die Überzeugung zur Bestätigung dieser selbstisolierenden Position führt. Sie läßt keinen Spielraum für die ambivalenten Gefühle, die in jeder Mutter-Kind-Beziehung ganz natürlich entstehen. Das wiederum verstärkt die Mutterisolierung, die ohnehin schon in jeder industriellen Gesellschaft gefördert wird. Aber das Image einer fröhlichen Mutter-Kind-Beziehung wird nicht nur Teil der Wirklichkeit, sie wird zur einzigen erkannten Realität. Das macht den Zugang zu den tatsächlichen Vorgängen fast unmöglich, weil dieses Image mit aller Kraft und Gewalt verteidigt werden muß.

Wenn die Orientierung an einem solchen Mutterimage an die Stelle wirklicher Gefühle tritt, erkennen die Eltern die Gefühls- und Bedürfnislage ihrer Kinder nicht mehr. Die Folgen für das Bewußtsein für unser Liebes- und Wärmebedürfnis sind irreparabel.

In sogenannten "primitiven" Gesellschaften dagegen erlaubt die Kultur in Ritualen und Zeremonien den Ausdruck ambivalenter Gefühle und komplexer Phantasien. Indem unsere Kultur es dem Mann erschwert, sich um Mutter und Kinder emotional zu kümmern, wird dieser mütterliche Idealisierungsvorgang verstärkt. Mehrere Studien zeigen, daß da, wo Mütter mit ihren Ehemännern tatsächlich ihre wahre Gemütslage teilen können, diese Verneinung der Ambivalenz weniger Raum im Selbstbild einnimmt.
Im Gegensatz zu anderen Gesellschaften wie zum Beispiel den Yequena in Venezuela oder den Montagnais-Naskapi im früheren Quebec, die ihre Kinder in ihrem Sein völlig akzeptieren und nicht versuchen, deren Gefühlswahrnehmungen zu programmieren, werden unsere Kinder in die Abhängigkeit gestürzt: Je mehr sie körperlich und seelisch als Kinder aufwachsen, desto mehr werden sie im Namen ihres "Kleinseins" unterdrückt.

So erfahren unsere Kinder zum Beispiel schon in den ersten Lebensmonaten, daß ihre eigenen empathischen Wahrnehmungen von den Erwachsenen als kindisch, unerfahren, unrealistisch, gefährlich abgetan werden. Tatsächlich jedoch sind Kindeswahrnehmungen äußerst reif und werden nur durch den Sozialisierungsprozeß täglich behindert. Der "put down", das heißt die Erniedrigung, die Demütigung unserer Kinder, mit der Eltern oft unbewußt ihren eigenen Selbstwert stärken, ist in den alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen unserer Gesellschaft eine Grundregel. Sie ist Bestandteil des Drucks, dem wir alle ausgesetzt sind und der uns dazu bringt, uns dem gleichförmigen sozialen Verhalten, Denken und Fühlen zu ergeben. Dieser Druck kommt von allen Seiten, von Eltern, Geschwistern, Priestern, Politikern, überhaupt von all denen, deren Träume vom "lebendigen Wesen" erstickt worden sind.

Ein Beispiel aus der psychotherapeutischen Praxis: Ein Patient erzählt, wie er als kleiner Junge auf seine schluchzende Mutter zuging, um sie zu umarmen und zu trösten. Sie hatte gerade einen schrecklichen Streit mit dem Vater gehabt. Sie lehnte jedoch die Liebe und seine Wahrnehmung ihrer Verletzung und Verzweiflung ab und wies ihn empört zurück: "Was fällt dir denn ein!" schrie sie ihm ins Gesicht. Bis ins Erwachsenenalter hinein hielt er sich in seiner Wahrnehmung von der Not anderer für dumm und schwach. Der Konformismus, die Unterwerfung unter die "Realität" durch den herrschenden andern, fordert einen hohen, wenn auch unbewußten Preis. Wenn nämlich die empathischen Wahrnehmungen eines Kleinkindes nicht den programmierten Wahrnehmungen der Eltern/Gesellschaft entsprechen, wird die Diskrepanz zwischen den zwei Welten (die des Kindes und die der Eltern) zum "Fehler" des Kindes. Indem das Kind die Diskrepanz zum eigenen Fehler macht, erhält es sich paradoxerweise am Leben. Denn von Eltern abgelehnt zu sein, sich als nicht geliebt zu erleben, das bedeutet, der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert zu sein.

Jeder hat das verzweifelte, leere und öde klingende Schreien von Kindern im Ohr, das Einsamkeit und ungestilltes Verlangen ausdrückt. Aber wir verschließen uns, weil darauf einzugehen hieße, unser eigenes untolerierbares Leiden von damals wieder zu erleben. Und so stellen wir uns sogar gegen das Kind. Sein Ausdruck der Aussichtslosigkeit, ja Verzweiflung wird damit abgetan, daß ihm ja in "Wirklichkeit" nichts fehle. Aber für das Kind ist die Situation gleichbedeutend mit dem Tod.

Ein Patient sprach über die Todesangst, die er als Kind empfand: "Allein im Bett zu sein und zu schreien, für mich war es, wie lebendig begraben zu sein. Man kann an die Wände klopfen, und es kommt niemand. Man wird für immer, für ewig allein sein." Mit diesem schrecklichen Abgrund kann ein Kind nicht leben. Es kann sterben, sich von der Welt entfernen oder auf selbststimulierende oder autistische Weise weiterleben, so daß es die Eltern als die es spiegelnde Instanz seines werdenden Selbst nicht braucht.

Wenn aber ein Kind in seiner Familie weiterleben möchte, muß es Verantwortung – das heißt in diesem Fall: Schuld – übernehmen für die Lieblosigkeit von Mutter oder Vater oder beiden. Dies ist kein logischer, bewußter Vorgang, sondern ein Prozeß, der von der Notwendigkeit, nicht allein zu sein, bestimmt ist. Allein zu sein ist – außer für ein autistisches Kind – eine Unmöglichkeit. Man kann ohne Echo nicht leben. Der Autist sichert sein Überleben, indem er sich ständig selbst durch wiederholendes mechanisches Verhalten stimuliert (Gruen & Prekop 1986). Für die meisten jedoch, die weder sterben noch autistisch werden, wird die unannehmbare Lieblosigkeit annehmbar, indem sie selbst die "Verantwortung" dafür übernehmen. Wenn ein Kind die Ursachen für den Mangel in sich finden kann, entsteht die Möglichkeit, seinen hoffnungslosen Zustand von sich fernzuhalten und sein Schicksal durch große Anstrengung in den Griff zu bekommen. Es entwickelt sich die Illusion – die Einbildung einer Macht –, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, parallel zur Angst vor dem immer lauernden Abgrund der Hoffnungslosigkeit und Schuld.

Der Preis ist der Haß auf das eigene Sein, das nun für immer die Schuld für die Lieblosigkeit übernommen hat. Die Lieblosigkeit der Eltern wird als Klage gegen das eigene werdende Selbst verinnerlicht.

Das passiert sogar dann, wenn ein Kind bewußt daran denkt, sich von der Mutter zu trennen. Ein Patient erinnerte sich in der Therapie, wie er plötzlich seine Mutter als böse erlebte. Sie schickte ihn in einen Wald, der voller Granaten war, um Beeren zu pflücken, sie warnte ihn sogar, weil ein Nachbarskind von einer Granate zerrissen wurde. In diesem Moment erlebte er die Mutter als tödlich, obgleich er sich gleichzeitig, völlig abgespalten von dieser Wahrnehmung, weiter an ihre "Liebe" klammerte. Er verachtete sich, weil er in einem Teil seiner Seele ihre "Nicht-Liebe" als gerechtfertigte Reaktion auf seine Unvollkommenheit sah. Was ins Unbewußte verdrängt wurde, war das verzweifelte Bedürfnis des Kindes, doch einmal von dieser Mutter bestätigt zu werden.

Henry Miller formulierte es so:

Draußen, für immer draußen! So sitzen wir auf der Schwelle des Mutterschoßes ... Wir brauchen den Trost und die Sicherheit ihres Schoßes, jene Dunkelheit und Behaglichkeit, die für den Ungeborenen den Ersatz für die Erleuchtung und Bejahung des wahrhaft Geborenen darstellt ...

Die Grundspaltung

Unter solchen Voraussetzungen verläuft die Entwicklung in zwei entgegengesetzte Richtungen, die für die Menschheit schreckliche Folgen haben. In der einen Entwicklung ringt ein Kind ständig mit dem Verinnerlichten. Es versucht verzweifelt, sich zu bessern, den Wünschen der Eltern bewußt oder unbewußt zu entsprechen, ohne die Hoffnung auf das eigene, autonome Selbst aufzugeben. Aber immer wieder erlebt es sein Versagen durch seinen Gehorsam gegenüber den negativen Erwartungen seiner Eltern. Indem es jedoch versagt, entspricht es ihren negativen Erwartungen. Nur so kann es sie und sich vor der Wahrheit ihrer mangelnden Liebe retten.

In der anderen Entwicklungsrichtung werden der Haß und die Verachtung des eigenen Selbst nach außen projiziert. Hier entsteht jene Abspaltung von dem eigenen gehaßten Selbst, die Feinde notwendig macht, um mit sich selbst leben zu können.

Die einen entwickeln sich zu den "seelisch Kranken" unserer Gesellschaft, denn sie leiden und "belästigen" uns damit. Letztere dagegen, weil sie sich dem Diktat ihrer Eltern angepaßt haben und gleichzeitig den inneren Haß auf einen Feind nach außen lenken, kennen weder Unruhe, Leid, noch Zweifel. Im Gegenteil: Da der Feind sie vor dem Erleben der inneren Unbehaglichkeit bewahrt, werden sie dem Image entsprechen, das die Gesellschaft erwartet.

Das sind die beiden Extreme dieser Entwicklung. Dazwischen gibt es verschiedene Mischungen von seelisch krank und angepaßt.

Die Angepaßten müssen, um die eigene Krankheit zu vermeiden beziehungsweise zu unterdrücken, dauernd mit einem Feind ringen. Und da gibt es viele von der Gesellschaft gebilligte Vorbilder, die zur Verfügung stehen: Juden und Ausländer zum Beispiel, auf die das, was man in sich selbst haßt, die eigene zurückgewiesene Menschlichkeit, als Feindbild projiziert werden kann. Außerdem können die Kraft und die Energie des Hasses in ein Ringen nach außen gewandelt werden, getrennt vom Bewußtsein und Erleben seiner Quelle. Die Psychoanalyse nennt diesen Vorgang Sublimation und verschleiert damit den destruktiven Ursprung in der Unterwerfung.
Aber ob sich der Haß direkt oder sublimiert ausdrückt, Außenlenkung führt zur Steigerung des nach außen gelenkten Seins und zur Notwendigkeit, den Feind (oder das, was ihn symbolisiert) zu besitzen, zu beherrschen, um ein Ringen mit sich selbst zu vermeiden. Alles, was zum Inneren führen könnte, wird verpönt. Sich wirklich selbst besitzen zu können, bei sich zu sein, wird unmöglich.

Eugene O’Neill, der amerikanische Dramatiker und Nobelpreisträger, schilderte diesen Prozeß am Beispiel der politischen Entwicklung der USA. Er schreibt: Amerikas "zentrale Idee gleicht dem fortwährenden Spiel, die eigene Seele durch den Besitz von etwas zu gewinnen, was außerhalb ihrer Grenzen liegt; dadurch verliert man aber die eigene Seele und das Eroberte". Dieser Vorgang führt zu einer Selbsttäuschung, die darin liegt, daß man tatsächlich die Macht entwickeln kann, um der Unzulänglichkeit durch Selbsthaß und Selbstverachtung zu entkommen. Und so jagen Menschen einer vorgetäuschten Stärke nach, einer halluzinierten Stärke, weil sie glauben, daß man sich durch Besitzen, Herrschen, Unterdrücken Sicherheit schaffen könnte. Und im Grunde ist dieses Streben nach Sicherheit das Bedürfnis nach Liebe, die man nie erhielt. Diese Jagd aber entstellt die Liebe nicht nur, sondern rückt sie auch für immer in unerreichbare Ferne.

Da das Projizieren von inneren Gefühlszuständen nach außen innere Spannungen reduziert, merken wir nicht, daß diejenigen, die Feindbilder fördern, uns in eine Welt voller Gefahren versetzen. Viele von uns nehmen ihre Art von Paranoia als Wahrheit und echte Kommunikation an, weil solche Menschen, die nicht mit sich selbst ringen und deswegen keine Gefühle von Zweifel und Verantwortung haben, auch keine Unsicherheit ausstrahlen. Das erlöst nun jene, die selbst voller Unsicherheiten sind und Unsicherheit als Krankheit abtun.

Die Notwendigkeit der Feindbilder

Die Grundkrankheit der Menschheit kreist um jene, die ihre Persönlichkeitsstrukturen nur durch Feindbilder aufrechterhalten können und ihren Selbsthaß, ihre Unsicherheit und ihre Verantwortungslosigkeit dem eigenen Sein gegenüber verdecken. Ich spreche hier nicht von denen, die im psychiatrischen Sinn paranoid sind, sondern von jenen Angepaßten, die genau wissen, wie sie sich den gesellschaftlichen Normen gegenüber zu verhalten haben. Die wirklich Kranken ringen mit sich selbst, jene jedoch nie. Im Gegenteil, anstatt Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse und Motivationen zu entwickeln, verfolgen und zerstören sie das Lebendige und Liebende als böse.

Klaus Barbies Eingeständnis, als er zur Folterung und Ermordung des französischen Widerstandskämpfers Jean Moulin befragt wurde, bekommt in diesem Zusammenhang Bedeutung. Er sagte:

Als ich Jean Moulin verhörte, hatte ich das Gefühl, daß er ich selbst war.

Je mehr er in Jean Moulin sein eigenes, zurückgewiesenes, rebellisches und menschliches Selbst erkannte, um so mehr mußte er ihn – also sich – hassen und töten. Solche Menschen müssen foltern und töten, um den Selbsthaß nach außen zu lenken.

Es gibt unterschiedliche Steigerungen des Selbsthasses und unterschiedliche Notwendigkeiten für die Aufrechterhaltung der eigenen Persönlichkeitsstruktur durch Feindbilder. Barbie verhielt sich in seiner Jugend, geprägt durch die religiöse Ausrichtung seines katholischen Elternhauses, konform. Erst als das bürgerliche Gefüge der gesellschaftlichen Strukturen mit dem Tod des Vaters, der ein gewalttätiger Trinker war, auseinanderfiel und eine akademische Laufbahn nicht mehr in Frage kam, trat für ihn die Nazi-Ideologie an die Stelle der Frömmigkeit.

Da das Feindbild in eine aktive, gewalttätige Verhaltensform mündet, fällt es oft mit wirtschaftlichen, sozialen und/oder politischen Verunsicherungen zusammen. Das Auseinanderfallen des gesellschaftlichen Rahmens führt für den auf Anpassung Ausgerichteten zum Auseinanderfallen seiner Welt. Wenn das äußere Gefüge des Angepaßten auseinanderbricht, wird seine auf Gespaltenheit basierende Integration bedroht. Sein abgespaltenes Inneres gefährdet ein Bewußtsein, das nicht mit diesem Inneren verbunden ist. Solch ein Mensch braucht äußere Strukturen und Autoritäten, um sich vom Eigenen, das er haßt, fernzuhalten. Um auf abgespaltene Art "integriert" zu bleiben, verstärkt sich in Zeiten der gesellschaftlichen Umwälzungen das Bedürfnis nach einem Feind. Der Autorität, die solch ein Feindbild zuläßt, wird er sich enthusiastisch ergeben.

Kriege nur ökonomisch und politisch zu erklären entfernt von der wirklichen Analyse. Kriege werden immer "notwendig", wo Menschen die Fähigkeit verloren haben, andere Menschen als lebendige Wesen zu sehen. Der Vorgang im Menschen, der Feindbilder erzeugt, ist auf folgende Weise zu skizzieren:

Wenn der wahre Feind – das heißt der schlechte Vater, die schlechte Mutter – nicht gesehen werden darf, weil sich das Kind ihrer "Nicht-Liebe" unterwarf, muß es später als Erwachsener das Gegenbild zur schlechten Mutter und zum schlechten Vater hassen. Die "gute Mutter", der "gute Vater" könnten bei dieser Entwicklung die Bedürfnisse nach wirklicher Liebe erwecken und bringen sie so mit den wirklichen bösen Eltern in Gefahr! Liebe und liebevolle Personen werden zum Feind, weil sie die früheren zurückgewiesenen Bedürfnisse nach echter Liebe und damit den alten Terror zu wecken drohen.

Es ist das Menschliche im anderen, das man haßt, um das Erlebnis der schlechten Mutter und/oder des schlechten Vaters wider die eigenen Gefühl als gut zu verteidigen. Diesen Haß des Menschlichen im anderen empfand Graf Moltke, ein Kämpfer gegen Hitler, als er kurz vor seiner Hinrichtung seiner Frau schrieb:
Ich werde nicht getötet, weil ich dies oder das getan habe, sondern weil ich Christ bin.

Diese Umkehrung von Liebe und Haß zeigt sich auf politischer Ebene immer wieder: Wir bewundern und unterwerfen uns gerade jenen, die die Menschheit am meisten verachten.

Indem das Menschliche zum Feind erklärt wird, verteidigen wir den Zusammenhalt eines Selbst, das sich von seinen Bedürfnissen nach echter Liebe entschieden getrennt hat. Kriege machen es möglich, den inneren Feind außerhalb des Selbst zu bekämpfen und sich dabei noch geheiligt zu fühlen. Was auch immer die äußeren Anstöße für Aggression sein mögen, Kriege vertuschen für den einzelnen, daß der Aufbau des Selbst auf einer Lebenslüge basierte. Sie ersparen ihm eine Auseinandersetzung mit dieser Erkenntnis. Die Grundlüge unserer Existenz besteht darin, daß wir die Verantwortung für die unzureichende Liebe unserer Eltern übernommen haben.

Und so suchen Menschen die Liebe, wo sie nicht existiert. Natürlich drückt das die Sehnsucht nach Liebe aus. Daß sie aber für so viele in weiter Ferne bleibt, hängt damit zusammen, daß sie sie fortwährend bei den Falschen suchen. Die daraus entstehende Verzweiflung treibt Menschen in einen Drang nach Erlösung. Die Unerträglichkeit einer lieblosen Existenz setzt Menschen den Versprechungen jener Demagogen aus, die mit falscher Liebe operieren. Sie sind erfolgreich, weil wir wahre Liebe gar nicht ertragen können und der falschen nachjagen, mit der wir uns schon von früher Kindheit an selbst täuschen.

Im Grunde macht wahre Liebe angst, weil wir uns der ursprünglichen Verhüllung der mangelnden elterlichen Liebe und vor allem der der Mutter stellen müßten. Hier liegt die Quelle für unsere allgemeine Unfähigkeit, mit uns selbst und unserer Welt realistisch umzugehen. Aber gerade diese Unfähigkeit wird als Realismus bezeichnet, weil sie uns davon abhält, uns mit der tiefsten Verzweiflung und dem tiefsten Schmerz unserer Vergangenheit zu konfrontieren.

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