Auszüge aus Arno Gruen's
"Der frühe Abschied"

Eine Deutung des plötzlichen Kindstodes

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Vorwort von Ashley Montagu

Erst 1963 wurde das Syndrom des Plötzlichen Kindstodes (Englisch: Sudden Infant Death Syndrome = SIDS) als medizinischer Tatbestand erkannt und folgendermaßen definiert:

Der plötzliche Tod eines Säuglings oder kleinen Kindes, der von der Krankengeschichte her nicht zu erwarten ist, und dessen Ursache durch die Obduktion nicht geklärt werden konnte.

In der Einschätzung der Häufigkeit solcher Todesfälle gibt es von Land zu Land und von Kultur zu Kultur beträchtliche Unterschiede, die sich als sehr aufschlußreich erweisen können. In den Vereinigten Staaten, wo ich dieses Vorwort schreibe, stirbt etwa einer von 500 lebend geborenen Säuglingen am Plötzlichen Kindstod. Das bedeutet über 10.000 Todesfälle im Jahr – eine hohe Sterblichkeitsquote und eine Tragödie für die betroffenen Familien.

Störungen der Atmung sind bei Säuglingen recht häufig: die Brust scheint sich zwar zu bewegen, aber es strömt keine Luft durch die Nase oder es kommt zu Unterbrechungen des Atmens (Apnoe). Apnoe tritt bei über 50 Prozent aller Frühgeburten auf und bei über 90 Prozent aller Babys, die in der 28. oder 29. Schwangerschaftswoche geboren werden. Die gefährdeten Säuglinge werden zwar mit Monitorgeräten entlassen, die Eltern erhalten aber sehr oft keine genauen Anleitungen, wie diese Geräte zu handhaben und zu überwachen sind und ab wann sie nicht mehr eingesetzt werden sollten.

Der Plötzliche Kindstod ist keine Krankheit im strenge Sinne, mit lokalisierbarer Ursache und typischem Verlauf. Was aber ist er dann? Diejenigen, die das Problem eingehender untersucht haben, neigen zunehmend der Auffassung zu, daß es sich um eine »funktionale Disharmonie« handelt, die sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen läßt, sondern durch ein Zusammenwirken vielfältiger Faktoren bedingt ist – von ungewöhnlichen Einzelfällen vielleicht abgesehen. Dies allein wäre noch nichts Besonderes. Mit wirklich monokausalen Phänomenen, die aus einer einzigen Ursache zu erklären sind, hat es die Wissenschaft nur selten zu tun. In der Regel geht sie davon aus, daß eine Vielzahl »notwendiger Bedingungen« erst in ihrer Gesamtheit die »hinreichende Bedingung« für eine spezifische Wirkung ergibt. Das Entscheidende könnte aber sein, daß die auslösenden Bedingungen für den Plötzlichen Kindstod mit medizinischen Kategorien allein nicht zu fassen sind.

Vieles deutet heute darauf hin, daß die Ursachenforschung deshalb so wenig Fortschritte gemacht hat, weil der Plötzliche Kindstod als rein medizinisches Phänomen behandelt wurde. Diese Einseitigkeit ist verständlich, denn als ein medizinisches hat sich das Problem zunächst gestellt. Der medizinische Ansatz war auch sehr wertvoll: er hat zumindest geklärt, wodurch der Plötzliche Kindstod nicht verursacht wird. Viel Unterholz wurde so aus dem Weg geräumt. Darin liegt eine Chance für ein umfassenderes und tieferes Verständnis.

Gegenwärtig gibt es keine Möglichkeit, eine Gefährdung durch den Plötzlichen Kindstod zu prognostizieren und Risikofaktoren exakt zu benennen. Phasen von Apnoe, also Unterbrechungen des Atmens, treten bei vielen Säuglingen auf, ohne daß dies ernstere Konsequenzen hat. Manche Babys scheinen nach der Geburt einige Minuten lang nicht zu atmen. Bei solchen Neugeborenen wird die Atmung gewöhnlich durch kräftige Massage, ein heiß/kaltes Wechselbad, einen kräftigen Klaps auf den Po oder mit anderen Mitteln angeregt, denen allen gemeinsam ist, daß das Kind ein gewisses Maß taktiler Stimulation erfährt.

Dies war ein Hinweis, dem man hätte nachgehen sollen. In der zweiten Ausgabe meines Buches Körperkontakt hatte ich die lebenswichtige Bedeutung der taktilen Stimulation auch im Hinblick auf den Plötzlichen Kindstod angesprochen; das Problem scheint jedoch nicht das Interesse der Forscher gefunden zu haben.
Glücklicherweise aber hat Arno Gruen, als der gute Wissenschaftler, der er ist, ganz unabhängig von meinen Beobachtungen eine Untersuchung der Eltern von Kindern unternommen, die am Plötzlichen Kindstod gestorben sind. Dr. Gruens Forschungsergebnisse sind eindrucksvoll und wichtig und sprechen für sich selbst; sie müssen jetzt, wie es in der Welt der Wissenschaft üblich ist, von unabhängigen Forschern bestätigt werden, die seinen Fingerzeig aufgreifen. Ich erwarte, daß weitere Untersuchungen seine Ergebnisse und Schlußfolgerungen erhärten werden.

Auffallend finde ich aber schon jetzt an den Ergebnissen von Arno Gruen, wie genau sie dem bereits gesicherten Wissen Rechnung tragen. So steht zum Beispiel fest, daß das Atmungssystem des Fötus höchst empfindlich ist. Wenn die Mutter eine einzige Zigarette raucht, kann es sein, daß der Fötus fünf Minuten lang aufhört zu atmen. Eine Schwankung im Blutzuckergehalt nach oben oder unten kann ebenfalls die Atmungsbewegungen im Fötus unterbrechen. Der Fötus atmet, indem er Sauerstoff durch die Plazenta und seine Leber aufnimmt. Bei der Geburt muß sich der Säugling an eine neue Form des Atmens anpassen, die sich von der Atmung im Uterus stark unterscheidet. Hier, wie bei den meisten anderen Funktionen, weisen menschliche Säuglinge starke Unterschiede auf.

Der Säugling erfährt während der Wehen und der Geburt eine intensive Stimulation der Haut, und es ist inzwischen erwiesen, daß er nach der Geburt weiterhin sehr viel taktiler Stimulation bedarf, da Menschen im Vergleich mit den meisten Säugetieren in einem noch sehr unreifen Zustand geboren werden. Normalerweise sind Mütter in der Lage, diese Stimulation reichlich zu gewähren, indem sie den Säugling streicheln, liebkosen, stillen und dergleichen mehr. Die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse fördert den Säugling in seiner Entwicklung und tut auch der Mutter gut.

Bei der Geburt atmet der Säugling noch pränatal; den Bedingungen der atmosphärischen Umwelt muß er sich erst anpassen. Dazu braucht er die Unterstützung der Mutter. Alles weist darauf hin, daß der Säugling in vielen Fällen nicht lernt richtig zu atmen und ein flacher Atmer bleibt, wenn die Mutter in dieser Aufgabe versagt. Ich habe die Meinung vertreten, daß in manchen Fällen dieses flache Atmen ein Faktor ist, der Phasen von Apnoe verursacht, die zum Tode führen können, wenn sie nicht rechtzeitig erkannt werden. Die Ergebnisse von Arno Gruen wie auch von anderen Forschern stützen diese Theorie. Es ist zu hoffen, daß diese Erkenntnisse das Verhalten verändern. Eine bessere Befriedigung der Bedürfnisse von Säuglingen kann dann dazu beitragen, die Häufigkeit des Plötzlichen Kindstodes zu mindern, ja, vielleicht ihn ganz zu überwinden. Ich glaube, daß Arno Gruens Arbeit hierzu einen wesentlichen Beitrag leistet.

Vorbemerkungen

Die vorliegende Untersuchung von Eltern, deren Kinder am Plötzlichen Kindstod gestorben sind oder beinahe daran gestorben wären, beruht auf ihren Erinnerungen an diese tragischen Erfahrungen. Man mag natürlich einwenden, diese Erinnerungen seien von dem Bedürfnis gefärbt, die Ereignisse in ein günstiges Licht zu rücken. Ein solcher Einwand enthält jedoch eine unzulässige Verallgemeinerung und verkennt wesentliche Aspekte des Problems: (1) Die Erinnerungen der Eltern konstituieren selber spezifische Ereignisse. (2) Sie sind Ausdruck des gesamten Lebensmusters der betroffenen Menschen. Diese innere Gültigkeit kann allerdings nur erkannt werden, wenn man die Berichte vollständig und als Ganzes liest. Erst dann nämlich wird deutlich, wie genau die Erinnerungen in das seelische Gesamtmuster passen, von dem die Erlebniswelt dieser Familien geprägt ist. Und eben daraus ergibt sich ihre Aussagekraft.

Zudem müßte einer absichtlichen Verfälschung der Erinnerungen ein Wunschdenken zugrunde liegen. Erinnerungen an Träume und Gefühle, die um das Sterben und den Tod kreisen, können jedoch schwerlich mit Wunschdenken erklärt werden, weil gerade solche Wünsche verleugnet werden würden. Ich glaube daher nicht, daß die hier vorgelegten Elternaussagen einer Vermeidungs- oder Verdrängungsstrategie entspringen. Ganz im Gegenteil: diese Eltern wollten Klarheit gewinnen über ihre Gefühle, die so auffallend dem Thema Tod verhaftet waren. Wo sie diesen Erfahrungen dennoch auszuweichen versuchen – wie in den Interviews wiederholt deutlich wird –, geben die zu Tage tretenden Widersprüche einen Hinweis auf zugrundeliegende unbewußte Einstellungen. Diese sind ein wesentlicher Aspekt des Problems und der Hintergrund des Datenmaterials; ihren Ursprung aufzuhellen, ist das Anliegen dieser Studie.

Das Fehlen von Kontrollgruppen bleibt ein Problem. Es war nicht möglich, vergleichbare Gruppen von Kindern zu finden, deren Tod andere Ursachen hatte als jene, die als Plötzlicher Kindstod definiert werden. Wir suchten zum Beispiel nach Kindern, die an Lungenentzündung gestorben waren. Glücklicherweise ist die Medizin so weit fortgeschritten, daß es in dieser diagnostischen Kategorie in den Kliniken, mit denen ich arbeitete, keine Todesfälle gab. Aber wir verfügen dennoch über eine gewisse Kontrolle, nämlich unsere klinische Erfahrung in der Psychotherapie. Natürlich begegnen wir auch bei unseren psychotherapeutischen Fällen verdrängter Aggression und der Beschäftigung mit dem Tod, allerdings nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit wie in der vorliegenden Untersuchung. Eine weitere Vergleichsmöglichkeit, auf die wir im Text zurückkommen, bietet eine große Elterngruppe, die 20 Jahre lang begleitend untersucht wurde. In diesem großen Sample mit ähnlichem sozioökonomischen Hintergrund lehnten 16 Prozent der Eltern ihre Kinder unbewußt ab; im vorliegenden Sample waren es an die 100 Prozent.

Es kommt hinzu, daß die hier vorgelegten Ergebnisse in sich schlüssig sind. Sie erlauben es, eine Brücke zwischen funktionalen und strukturellen Faktoren zu schlagen. Das hat zwar an sich noch keine volle Beweiskraft, kann aber die Richtung für weitere Arbeiten weisen. Unsere Untersuchung zeigt Wege auf, eine Verbindung herzustellen zwischen den emotionalen Prozessen, wie sie aus den Erinnerungen der Eltern erschlossen werden können, und der komplizierten Entwicklung der Atmung im Kontext der Mutter-Kind-Bindung.

Kein Organismus existiert unabhängig von seiner Entwicklungsgeschichte. Selbst bei einem Insekt kann eine unerfüllte Erwartung, die ihrerseits eine Funktion interaktiver Erfahrung ist, zu Lähmung und Tod führen; von Holst und Mittelstaedt haben das nachgewiesen.

Ich möchte einen weiteren Einwand gegen meine Ergebnisse vorwegnehmen, daß sie nämlich durch meinen unbewußten Einfluß zustande gekommen sein könnten. Ich kann dazu nur sagen, daß mein ursprüngliches Ziel bei diesen Interviews ein ganz anderes war, wie aus dem Text selbst hervorgeht. Die Schlußfolgerungen entsprachen nicht dem, was ich suchte und erwartete, sondern ergaben sich aus dem, was ich fand.

Ich möchte hiermit Herrn Professor Dr. Otmar Tönz, Chefarzt am Kinderkrankenhaus Luzern, meinen besonderen Dank aussprechen. Ohne sein Verständnis und seine großzügige Hilfe hätte diese Untersuchung nicht durchgeführt werden können. Ich möchte auch Herrn Professor Dr. Dr. Theodor Hellbrügge vom Kinderzentrum der Universität München dafür danken, daß er mir die Gelegenheit gab, einige Aspekte dieser Studie in der Zeitschrift Sozialpädiatrie (1985) zu veröffentlichen, Herrn Professor Dr. Sepp Schindler von der Universität Salzburg, daß ich meine Ergebnisse an seinem Institut für Prä- und Perinatale Psychologie im November 1986 darstellen durfte, und Dr. Tom Verny für eine amerikanische Veröffentlichung in Pre- and Peri-Natal Psychology (1987). Andere haben mir durch Ermutigungen während der verschiedenen Stadien der Arbeit geholfen. Besonders genannt seien hier Dr. George Victor und Dr. Martha Welch. Nicht zuletzt bin ich Ruth Schmidhauser zu Dank verpflichtet, die mit mir die Verzweiflung über die Ergebnisse im Fortgang der Arbeit getragen hat. Denn was dem Schrecken des Plötzlichen Kindstodes zugrunde liegt, ist die allgemeine menschliche Situation, unser Gefangensein in soziale Verstrickungen, die den freien Fluß der Gefühle hemmen.

Ich danke Hans Krieger für seine redaktionelle Mitarbeit an diesem Buch. Seine Vorschläge zur Textgestaltung haben mir sehr geholfen, meine Gedankengänge präziser zu fassen und in einer Sprache zu formulieren, die – wie ich hoffe – dem Leser einen mitfühlenden Zugang zu einem verschwiegenen Aspekt der Tragik unseres Menschseins eröffnen kann.

Der Leser wird selbst beurteilen, ob ich meinem Ziel nahe gekommen bin, einen menschlichen Beitrag zur Lösung des furchtbaren Rätsels vom Plötzlichen Kindstod zu leisten. Mein eigentliches Ziel ist es, zum Denken anzuregen und jene Sichtweise zu fördern, die die Ganzheitlichkeit der menschlichen Erfahrung nicht aus dem Blick verliert.

Einleitung

Gefühle, die ins Unbewußte verdrängt wurden, suchen nach Ausdruck und Anerkennung. Da sie zu den bewußten Einstellungen und Lebenszielen in Widerspruch stehen, müssen sie dazu die Bewußtseinskontrolle umgehen, sich also so ausdrücken, daß ihre eigentliche Bedeutung unerkannt bleibt. Die Lebenssituation, der wir alle unterworfen sind, verstärkt dieses permanente Suchen. Ungestillte Bedürfnisse aus der Kindheit drängen nach Befriedigung in verschleierter Form. Eines unserer grundlegendsten Bedürfnisse ist das Bemuttertwerden. Wenn dieses Bedürfnis während der Kindheit ungestillt blieb, dann wird es beim späteren Erwachsenen reaktiviert, wenn er in einer Situation ist, die fürsorgliche Zuwendung und liebevolle Versorgung verspricht. Das ist vor allem in der Ehe der Fall.

Zugleich mit dem ungestillten Bedürfnis wird aber auch der Schmerz der Verletzungen reaktiviert, die mit dem frühen Versagungserlebnis verbunden waren, und damit auch Gefühle von Haß und Wut. Aber auch die aktuelle Situation ist mit Entbehrungen verbunden, weil ein Kindheitsbedürfnis nachträglich nie wirklich befriedigt werden kann, und löst darum Wut aus. Das Übermaß der ins Bewußtsein drängenden Aggressionen weckt starke Ängste, und diese Ängste verstärken die Gefühle kindlicher Ohnmacht, die ohnehin durch die Abhängigkeit genährt werden, in die vor allem die Frauen (aber auch Männer) in unserer Gesellschaft durch die Institution der Ehe gedrängt werden. Der so entstehende Gefühlsstreß macht es für Frauen besonders schwierig, eine bewußte Lösung für ihre inneren Probleme zu finden. Denn auf ihnen – nicht auf den Männern – lastet die gesellschaftliche Forderung, eine mütterliche, bemutternde Rolle zu erfüllen. Dieser Rolle können sie sich nicht entziehen; sie können sie aber schwer erfüllen, wenn sie sich ihrer eigenen kindlichen Sehnsüchte, ihrer Ängste und vor allem ihrer Aggressionen bewußt werden. So werden sie immer mehr in die Unbewußtheit ihrer Lage gezwungen.

Die Männer leisten durch ihre eigene Unbewußtheit ihren zerstörerischen Beitrag zu dem sich anbahnenden Drama. Sie verschanzen sich hinter dem idealisierenden Selbstbild des liebevoll für Frau und Kinder sorgenden Ehemannes, wollen aber nicht wahrnehmen, daß diese Fürsorglichkeit auch kontrollierende Aspekte hat. Dies mindert erheblich die Chance der Frauen, sich ihres eigenen Grolls bewußt zu werden: die Kontrolle des Mannes verstärkt zwar diesen Groll, aber die Tarnung der Kontrolle als Güte läßt ihn als unberechtigt erscheinen. So muß sich zunehmend unbewußte Feindseligkeit entwickeln, deren Last vor allem die Frau zu tragen hat, da die gesellschaftlichen Normen ihr, nicht aber dem Mann aggressives Verhalten verbieten. Zu dieser Entwicklung kommt es, weil Frauen wie Männer noch immer einem Mythos verhaftet sind: dem trügerischen Idealbild des fürsorglichen Mannes, dessen Güte mit Unterwerfung bezahlt werden muß. Es handelt sich hier um eine mystifizierende Ideologie, der in unserer Kultur sowohl Männer wie Frauen verfallen sind: Fürsorglichkeit wird für Liebe ausgegeben, ihre kontrollierenden, besitzergreifenden, machtausübenden Aspekte werden geleugnet. Wo dies nicht durchschaut wird, ist unbewußte Feindseligkeit die unausweichliche Konsequenz.

Die eigentliche Ursache für das so entstehende Elend ist in der Abhängigkeit zu suchen, in die Männer und Frauen von Geburt an durch Eltern gebracht werden, die ihrerseits Macht ausüben müssen, um ein trügerisches Selbstwertgefühl zu gewinnen. Zwar werden diese unterirdischen Gefühlsströme dem Kind in erster Linie durch die Mutter vermittelt, weil sie ihm am nächsten ist, aber sie ist doch selber nur ein Werkzeug in einem Prozeß, der seinen Ausgangspunkt in dem noch weitgehend unbefragten Zerrbild des Mannes hat, das diesem das Recht zuspricht, Frauen zu beherrschen. Eingewebt in dieses Muster ist die Wahnvorstellung, Selbstwert beruhe auf der »Stärke«, zu dominieren, statt auf dem Gefühl der eigenen Lebendigkeit. Diese untergründige Ideologie, die unser gesamtes Leben durchzieht, ist die wahre Quelle des Desasters. Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie vor diesem allgemeinen Hintergrund auch das schwer erklärbare Phänomen des Plötzlichen Kindstodes verständlicher werden kann.

Das Problem

Wir leben eingebettet in eine Stimulus-Welt von Reizen, die das Leben nicht nur strukturieren, sondern aufrecherhalten. Ein Mensch, der von der ihn umgebenden Stimulus-Welt abgetrennt ist, dem alle sensorischen Reize wie Töne, wechselnde visuelle Formen, taktile und Geruchsstimulation entzogen werden, kann darum seelisch zusammenbrechen und eine Psychose entwickeln (Grunebaum 1960; Heron 1953; Lilli 1956). Dies ist ein sehr einfacher Hinweis auf den ganzheitlichen Charakter der komplizierten Wechselwirkungen zwischen Organismus und Umwelt, in denen das Leben sich abspielt.

Zu schwerwiegenden psychischen Entbehrungen kommt es in einer Welt, die zunehmend das Seelische, die Gefühle vom Gesamtgefüge des menschlichen Seins abspaltet (Gruen 1987); es sollte nicht überraschen, daß dies auch Auswirkungen auf physiologische Funktionen wie Atmung und Herztätigkeit hat. Von Ausnahmen abgesehen (vor allem Stork 1986), besteht aber noch kaum Bereitschaft, daraus Folgerungen für das Verständnis des Plötzlichen Kindstodes zu ziehen, wie die einschlägige Literatur beweist. Dabei hat es sich als unmöglich erwiesen, diese in der industrialisierten Welt rasch zunehmenden Todesfälle rein organisch zu erklären.

Unverdrossen wird weiter nach einer Pathologie gesucht, die sich abgelöst vom gesellschaftlichen Gesamtgefüge verstehen läßt. Trotz neuer Einsichten, die eine ganzheitlichere Sicht nahelegen, wird immer noch versucht, die Wechselwirkung zwischen dem Lebendigsein eines Organismus und seiner Umwelt mit der herkömmlichen, vereinfachenden Reflexbogentheorie von Reiz und Reaktion zu erklären. Um über dieses mechanistische Schema hinauszugelangen, muß man gewillt sein zu erkennen, daß der Organismus die ihm eigene Lebendigkeit auf Bedürfnissen und Erwartungen aufbaut, deren Strukturen nicht vorprogrammiert sind, sondern sich im erlebenden Austausch mit der Umwelt herausbilden (Kuo 1932; Blechschmidt 1976). Die Befriedigung dieser Bedürfnisse und Erwartungen wird zum zentralen Kern jeglichen individuellen Lebens. Eine herausragende Rolle spielt dabei das Verlangen nach Wärme, nach zärtlicher Zuwendung, nach Geborgenheit, nach Freude an der sich entwickelnden eigenen Kraft, sich mit der Umwelt wirkungsvoll zu integrieren. Dieses Verlangen wird zur Grundquelle jeglichen Seins.

Das Ausbleiben eines erwarteten Reizes, der zur Stimulierung der Selbstorganisation des Organismus notwendig ist, kann darum eine schwerwiegende Irritation mit weitreichenden Folgen darstellen. Im Extremfall kann eine Situation eintreten, in der es um Leben oder Tod geht. Wird die zentrale Bedeutung unbefriedigter Erwartungen, die manchmal lebensbedrohende Wucht seelischer Entbehrungen des Säuglings übersehen, so bleibt das Entscheidende unerkannt. Das ist der Kern des Problems.
Die Nichtbefriedigung aufgebauter Erwartungen, die für die Entwicklung des Organismus zugleich aufbauende Bedeutung haben, führt beim Menschen wie bei Tieren zu einem Zustand extremer Hilflosigkeit. Daß das Ausbleiben eines erwarteten Reizes schon bei relativ einfach organisierten Tieren zu Paralyse und zum Tod führen kann, haben von Holst und Mittelstaedt mit Versuchen an der Fliege Eristalis nachgewiesen.

Der große amerikanische Psychologe William James schrieb in seinem Buch Principles of Psychology 1905:

Des Menschen Selbst liegt darin, daß er von seinen Mitmenschen erkannt wird ... Keine unmenschlichere Bestrafung könnte erfunden werden ... als daß man sich in der Gesellschaft befindet und absolut niemand einen bemerken würde ... Wenn jede Person, die wir trafen ..., sich verhalten würde, als ob wir ein nichtexistierendes Wesen seien, dann würde sehr bald Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns emporsteigen ... (S. 179 f; Übers. A.G.)

Eine Beobachtung, die gut zu der Aussage von William James paßt, machte der bahnbrechende neurologische Forscher Walter B. Cannon zum Ausgangspunkt seiner Studie über den Voodoo-Tod (1942): Er beobachtete, daß Katzen, denen die Großhirnrinde entfernt wurde, in einem andauernden Zustand der Rage versetzt wurden und innerhalb mehrerer Stunden starben. Die Untersuchung zeigte ihm, daß eine Kombination von Umständen zum Tod der Katzen führte: die Überstimulation des Sympatico-Adrenalin­systems und die Unterdrückung des Ausdrucks ihrer Gefühle.

In diesem Zusammenhang wies Cannon darauf hin, daß Schock im Kriege nicht immer auf Wunden oder ein aktuelles Trauma zuruckführbar war, sondern oft lediglich auf die subjektive Erfahrung der Angst. Aus diesem Grunde suggerierte er, daß der »Voodoo-Tod« bei den Afrikanern seinen Ursprung in erschütterndem emotionalem Streß hatte, bei dem die Gefühle von Panik und Entsetzen jedoch unterdrückt bleiben und nicht ausgedrückt werden können.

Curt Richter, ein anderer Forscher auf dem Gebiet des unerklärlichen plötzlichen Todes bei Mensch und Tier, fand in einer Studie mit der wilden Norwegischen Ratte (1965), daß dieses Tier innerhalb von 2 bis 8 Minuten starb, wenn ihm die Möglichkeit der Bewegung genommen wurde. Weitere Beobachtungen zeigten, daß diese Ratten an einer Verlangsamung der Herzaktivität starben. Angst und eine Serie von Störreizen können das Herz durch Hemmung des Vagus zum Stillstand bringen.

Ausschlaggebend war dabei für Richter jedoch die Beobachtung, daß dieser Tod eine Reaktion auf einer höheren Integrationsebene des Organismus sein mußte.
Die Situation dieser Ratten ist nicht eine, die durch Kampf oder Flucht gelöst werden kann – es ist vielmehr eine Situation der Hoffnungslosigkeit; da sie in ihrer Bewegungsfreiheit vollkommen eingeschränkt wurden ... hatten sie keine Fluchtmöglichkeit, und deswegen keine Chance einer Abwehr dieser Situation ... Es scheint, als ob diese Tiere buchstäblich (ihr Leben) aufgaben. (S. 308 f)

Bezeichnend war, daß mit der Hoffnungslosigkeit auch die Lebensgefahr endete: wurde den Ratten ihre Bewegungsfreiheit kurz vor dem sonst unweigerlich eintretenden Tode zurückgegeben, so starben sie nicht. Richter schloß daraus, daß außergewöhnliche Stimulationen des Nervus Vagus und vielleicht auch des Sympatico-Adrenalinsystems an diesem Vorgang beteiligt sind.

Von der psychologischen Ebene aus deuten die Beobachtungen darauf hin, daß Ratten wie auch Menschen als eine Reaktion auf Hilflosigkeit sterben. (S. 312)
Hilflosigkeit aber ist der dominierende Aspekt menschlicher Kindheit, wenn die Eltern auf die Bedürftigkeit des Kindes nicht liebevoll eingehen können. Ob Eltern dies tun können oder nicht, hängt wiederum entscheidend vom Grad der Entfremdung ab, in die sie durch unsere technoide und erfolgsorientierte Kultur getrieben worden sind. Gesellschaften, die das innere Leben des Menschen negieren, trennen ihn von seinen empathischen Fähigkeiten ab (Gruen 1984). Wenn das geschieht, können Eltern ihre empathische Wahrnehmung der Not ihres Kindes nicht zulassen. Sie erkennen seine Verzweiflung nicht, können seine bedrohliche Lage nicht richtig einschätzen und daher auch nicht angemessen auf sie reagieren. Statt den emotionalen Zustand des Kindes zu erfühlen, verlassen sie sich auf gedankliche Vorstellungen und verlagern ihre Aufmerksamkeit auf Äußerlichkeiten.

Ein Beispiel: Eine Mutter hat Angst vor ihrer 17-jährigen Tochter, weil diese droht, sie umzubringen, und ruft die Polizei. Äußerlich betrachtet hat diese Mutter allen Grund, sich bedroht zu fühlen. Wenn wir uns allein an das halten, was offensichtlich scheint, ist ihr Verhalten realistisch. Es gibt da aber noch eine andere Ebene, die viel wichtiger ist, und zu ihr hatte diese Mutter keinen Zugang: ihre Tochter war verzweifelt. Sie bedrohte zwar ihre Mutter, wollte aber von ihr in ihrer Wut angenommen werden. Sie wollte die Autorität ihrer Mutter herausfordern, um einen Halt zu finden und damit einen geschützten Raum, in dem sie ihre kindliche Wut erleben und verarbeiten konnte. Die Mutter erkannte diese tiefere Ebene nicht, weil sie selber von ihrem Fühlen abgeschnitten und in Äußerlichkeiten und gedanklichen Vorstellungen befangen war. Erst später, als die Mutter ihren eigenen Gefühlen näher kommen konnte, nachdem sie sich von dem Mythos des »Machens« befreit und eine bessere Basis für ihr Selbstwertgefühl gefunden hatte, konnten sie und ihre Tochter wieder aufeinander zugehen (Jannberg 1980).

Der springende Punkt dieser schmerzhaften Geschichte ist die Abspaltung unserer spontanen empathischen Wahrnehmungen. Diese Abspaltung zeigt sich in unserem täglichen Umgang mit Kindern in der Ablehnung des Körperkontaktes. Während sogenannte »Primitive« ihre Kinder den ganzen Tag mit sich tragen, sie bei allen ihren Aktivitäten dabei haben, so daß diese an den Rhythmen des täglichen Lebens teilnehmen, bestehen wir darauf, Säuglinge in »sauberen« Betten von uns fernzuhalten. Mutter wie Kind nehmen dabei Schaden; der Strom des empathischen Mitfühlens wird unterbunden, die Wahrnehmung des anderen wie auch des eigenen Empfindens muß verkümmern. Da die Kommunikation zwischen der Mutter (oder dem Vater) und dem Kind unterbrochen wird, entsteht eine Art Vakuum. Es sollte nicht verwundern, daß dies zu Bindungsschwierigkeiten führt.

Andererseits wird die Abhängigkeit des Kindes verstärkt. Die Unterbrechung der empathischen Verbindung mit den Eltern macht es extrem hilflos, da es die Wirkungslosigkeit seiner Kommunikation erlebt. Eigentlich ist der Säugling ja kompetent, aber er kann diese Kompetenz nur erleben, wenn die Umwelt seine Botschaften wahrnimmt und liebevoll beantwortet, wenn also Reziprozität in der Kommunikation besteht.

DeCasper (1980) hat in einem Experiment nachgewiesen, daß Säuglinge schon in den allerersten Lebenstagen lernen können, durch Saugen an einem Nippel ein Tonband mit der Stimme ihrer Mutter einzuschalten; an Tonbändern mit den Stimmen anderer Frauen zeigten sie hingegen kaum Interesse. Dies beweist nachdrücklich die Eigeninitiative des Neugeborenen in der Kommunikation mit der Mutter und sein Bedürfnis nach Resonanz. Ein Säugling erlebt seine Mutter ganzheitlich; visuelle und akustische Eindrücke bilden eine Einheit. Und er protestiert, wenn diese Einheit der Mutter auseinandergerissen wird, indem etwa ihre Stimme aus einer ganz anderen Richtung kommt als ihr visuelles Bild (Aronson 1971).

Von Geburt an sucht ein Baby Blickkontakt mit den Augen der Mutter (oder der Person, die es bemuttert) und versucht, diesen Blickkontakt aufrechtzuerhalten. Wenn es nicht gelingt, solch einen Kontakt zu entwickeln, fehlt dem Kind die vielleicht wichtigste Quelle der Bestätigung seiner Lebendigkeit, ja seines Seins. Der Dichter Friedrich Hebbel hat dies sehr treffend formuliert:

So dir im Auge wundersam, sah ich mich selbst entstehen.

Wenn kein Blickkontakt zustande kommt, ist die Entwicklung einer Bindung an Mutter und Vater tiefgreifend gestört. Im Extremfall entwickelt sich überhaupt kein Bindungsverhalten; das Kind wird autistisch.

In diesem Syndrom ist die Bindung zwischen Kind und Eltern gebrochen. Gerade der Blickkontakt spiegelt diese Schwierigkeit wider. Das Kind vermeidet Blickkontakt generell, vor allem aber mit seiner Mutter als der wichtigsten Bezugsperson. Dieses Vermeiden kommt häufig in sogenannten »Radar-Gaze« zum Ausdruck. Dieser starre Radar-Blick ist ein Hindurchblicken durch den anderen, eine Art »Röntgenblick«, bei dem der, der angeschaut wird, sich gar nicht im persönlichen Sinn angeschaut fühlt. Es ist also kein warmes, menschliches Anblicken; der Blick ist maschinenhaft, kalt und distanziert.

Ich betone dies deshalb, weil bei elf der 14 in unserer Studie untersuchten Fälle von Plötzlichem Kindstod dieser durchdringend starre Blick geschildert wird. Wahrscheinlich hatten ihn auch die übrigen drei Kinder, und die Eltern haben ihn entweder nicht wahrgenommen oder aber ihre Wahrnehmung verdrängt. Bezeichnend ist, daß diese Art des Blickens in allen Fällen auch von anderen Personen, insbesondere den Kinderärzten beobachtet wurde.

Drotat und seine Mitarbeiter (1968) führten den »Radar-Gaze« in ihrer Studie auf Eltern zurück, denen ihre eigenen Bedürfnisse wichtiger waren als die ihrer Säuglinge. Solche Eltern sind – wie unser Beispiel von Judith Jannberg und ihrer Tochter gezeigt hat – von ihren empathischen Wahrnehmungsfähigkeiten abgeschnitten. Darum erkennen sie gar nicht, was im Kind vorgeht: Sie nehmen nur sich selber wahr. Darum aber geht es: eine Gesellschaft, die den Körper-Kontakt vernachlässigt, der für das empathische Fühlen unentbehrlich ist, fördert eben solch eine Entwicklung. Natürlich bedeutet dies, daß solche Eltern selber in ihrer eigenen frühen Entwicklung keine Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse erlebt haben. Das entspricht genau den Befunden von Fraiberg (1975).

Natürlich spielen auch Faktoren der Gegenwart ihre Rolle in solch einer Entwicklung. Fraiberg betont deswegen, daß der gesamte Lebenskontext entscheidend dafür ist, wie eine Beziehung zwischen Mutter (Vater) und Kind sich entwickelt. Ist eine Mutter unter Streß, etwa weil sie nicht genügend Möglichkeit für emotionalen Austausch hat, so verstärkt die psychische Isolierung das aus der Kindheit herrührende Gefühl des Verlassenseins und der mangelnden Sättigung ihrer eigenen Bedürfnisse. Sie kann dann noch weniger auf ihr Kind eingehen. Schwangerschaft selber kann in unserer entfremdenden Welt zur Isolierung führen, ebenso beginnende Zerrüttung der Ehe, die Abwesenheit des Vaters oder andere emotionale Verlusterlebnisse.

Daß die Mütter und Väter in unserer Stichprobe stark mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt waren, geht daraus hervor, daß ihre Gedanken und Träume immer wieder um das Thema Tod kreisten. Solch starke psychische Fixierung an den Tod muß jedes Kind, das seine Eltern empathisch erfühlt, in ein Gefühl extremer Hilflosigkeit stürzen, das es nicht verarbeiten kann. Das Folgende ist ein Versuch, diese These zu belegen.

Um dies zu veranschaulichen, lege ich zunächst die neuro-psychologischen Grundlagen dar, allerdings nicht isoliert, sondern in ständiger Verknüpfung mit dem emotionalen Streß, den die Normen unserer Gesellschaft erzeugen. Sodann präsentiere ich die Fallbeschreibungen, ausgehend von den Interviews mit den Eltern der fast oder tatsächlich am Frühzeitigen Kindstod gestorbenen Kinder. Darauf folgt der eigentliche Versuch einer Integration unseres gegenwärtigen Wissens.

Der Leser, der diese Arbeit weniger mit wissenschaftlichem als mit praktischem Interesse liest, wird die neuro-psychologischen Passagen zum Teil überspringen können. Sie sind jedoch wichtig als Untermauerung für das, was folgt. Sie widersprechen der herkömmlichen Denkweise, die von einfachen Reflex-Bögen ausgeht und Struktur und Funktion als trennbare Variablen behandelt. Die hier eingeführte Sicht versteht das Leben als dialektische Dynamik, die nicht aus isolierten Teilprozessen verstanden werden kann. Leben ist seinem Wesen nach immer Bewegung in einem überaus komplexen Gesamtsystem; es muß also immer die Ganzheit des lebendigen Prozesses im Auge behalten werden. Jede Analyse, die von dieser Dynamik abstrahieren zu können meint und isolierte Teilaspekte für sich untersuchen und verstehen will, reduziert künstlich die tatsächlichen Vorgänge und verfälscht damit die Wirklichkeit.

Medizinische Aspekte

Als Syndrom des Plötzlichen Kindstodes definiert man den plötzlichen und unerwarteten Tod eines Säuglings, den man für gesund hielt oder dessen letzte Krankheit so leicht zu sein schien, daß die Möglichkeit des tödlichen Ausgangs ausgeschlossen werden konnte. Man schätzt, daß in den Vereinigten Staaten eines von 500 Babys am Plötzlichen Kindstod stirbt (Shaw 1968), in Frankreich führt Fontaine (1962) 20 Prozent der Säuglingssterblichkeit auf diese Todesart zurück, und Carpenter (1965) schätzt für Großbritannien den gleichen Anteil. Schon 1959 hat Emery in seiner Untersuchung darauf hingewiesen, daß die Häufigkeit des Frühzeitigen Kindstodes von Jahr zu Jahr zunimmt.

Die Forschung der letzten 30 Jahre hat Vermutungen über die Ursachen aufgestellt, diese aber nie erhärten können. Aus der umfassenden Durchsicht der internationalen Fachliteratur zwischen 1954 und 1966, die Marie A. Valdes-Dapena 1967 unternommen hat, ergibt sich, daß bei der Obduktion häufig Erkrankungen des Atmungssystems festgestellt wurden. Diese waren für sich allein jedoch niemals ein hinreichender Grund, um den Tod eines Kindes zu erklären. Aus ihrer Untersuchung ergeben sich jedoch zwei pränatale Faktoren, die mit statistischer Signifikanz für den Plötzlichen Kindstod relevant sind. Es handelt sich bei beiden Faktoren um Verhaltensmerkmale der Mütter: In der Kontrollgruppe (keine Todesfälle) besuchten doppelt soviele Mütter im ersten und zweiten Schwangerschaftsmonat einen Arzt wie die Mutter von PKT-Kindern, und letztere rauchten fast zweimal soviel wie die Mütter aus der Kontrollgruppe. Allein diese beiden Einzelergebnisse einer im übrigen fruchtlosen statistischen Suche nach kausalen Beziehungen verweisen auf die Notwendigkeit eines breiteren biosozialen Ansatzes.

Die auf Valdes-Dapenas Untersuchung folgende Arbeit hat die Meinung vertreten, daß Störungen im Atmungssystem und dem dazugehörigen Nervensystem zum Plötzlichen Kindstod führen. Unbeantwortet blieb jedoch die Frage, was der eigentliche Auslöser des Todes ist. Edward Shaw (1968) versuchte diese Frage zu beantworten, indem er darauf hinwies, daß eine nasale Behinderung der Atmung aufgrund einer leichten Infektion zur Apnoe führt. Bei Kindern, die nicht in der Lage sind, auf Mundatmung umzuschalten (wie das bei vielen Säuglingen der Fall ist), würde dies zu Spasmen in den akzessorischen Atemmuskeln und im Kehlkopf führen, wodurch dann der Tod durch Ersticken eintreten würde.

Alfred Steinschneider berichtete 1972 über ausgedehnte Perioden von Apnoe im Schlaf von fünf Säuglingen, von denen zwei später am Plötzlichen Kindstod starben. Er hatte bei ihnen während mehrerer Schlafphasen die Atmung und die Augenbewegungen (REM) beobachtet und festgestellt, daß Apnoe in den ersten Lebenswochen beträchtlich zunahm und danach wieder abnahm. Obwohl es Steinschneider für wahrscheinlich hielt, daß eine Infektion der Atmungswege das Auftreten von Apnoe im Schlaf begünstigt, zitierte er auch Beobachtungen an vielen Säuglingen, die am Plötzlichen Kindstod gestorben waren, aber keine Anzeichen von Infektion aufwiesen. Bei den von ihm untersuchten Kindern registrierte er ausgedehnte Phasen von Apnoe auch dann, wenn sie von einer klinisch nachweisbaren Krankheit frei waren. Eine durchgängige Beobachtung war jedoch, daß Apnoe am häufigsten im REM-Schlaf auftrat. Obwohl ihm nicht klar war, auf welche Weise der REM-Schlaf eine Apnoe auslösende Veränderung im Atmungszentrum bewirkt, glaubte er dennoch, daß es zu einer solchen Veränderung komme und sie für den Prozeß wesentlich sei. Er vermutete deswegen, daß die langfristig oder vorübergehend wirksamen Faktoren, welche die Dauer des REM-Schlafs bestimmen, Einfluß auf das Ausmaß von Apnoe während des Schlafs haben und damit auch auf die Wahrscheinlichkeit des Plötzlichen Kindstodes.

Die Möglichkeit, daß Eltern von PKT-Kinder chronische Atemschwierigkeiten übersehen haben könnten und folglich eine Gruppe speziell ausgebildeter Beobachter zu anderen Ergebnissen kommen würden, veranlaßt Mandell (1981) dazu, 30 Krankenschwestern zu befragen, die Kinder durch den Plötzlichen Kindstod verloren hatten. Sie sollten die Frage beantworten, ob sie auch ohne Infektion der Atemwege irgendwelche respiratorischen Symptome festgestellt hätten. Tatsächlich hatten 37 Prozent der Krankenschwester-Mütter Unregelmäßigkeiten der Atmung bei ihren Kindern beobachtet wie Keuchen, ziehendes oder unregelmäßiges Atmen, Apnoe und Zyanose (Blauwerden). Nur 6 Prozent jener Mütter, die keine Krankenschwestern waren, erinnerten sich an solche Schwierigkeiten. Von den 60 Krankenschwestern mit gesunden Säuglingen berichtete nicht eine einzige von Atemproblemen ohne Infektion.

Weil sich auf diese Weise die Anzeichen für eine Unterventilation der Lungen bei PKT-Opfern häuften, machte sich Naeye (1973, 1974) daran, nach den anatomischen Voraussetzungen für eine derartige Entwicklung zu suchen. Tatsächlich stellte er bei etwa 60 Prozent einer Reihe von PKT-Opfern eine anomale Vermehrung der Muskeln in den kleinen Lungenschlagadern fest. In einer zusammenfassenden Darstellung seiner ausgedehnten Forschungen (1980) postulierte er folglich, daß das Leben von mindestens der Hälfte der PKT-Opfer von längeren Perioden von Hypoxie gekennzeichnet gewesen sei. Er hatte auch entdeckt, daß mehr als die Hälfte der Opfer ein unterentwickeltes Glomus caroticum hatten, was darauf hinweist, daß diese Säuglinge wahrscheinlich Schwierigkeiten hatten, während längerer Episoden von Apnoe wieder mit dem Atmen zu beginnen.

Außerdem stellte er bei diesen Säuglingen eine abnorme Proliferation astroglialer Fasern in der lateralen Formatio reticularis des Hirnstamms fest. Aus der Tatsache, daß Sachio Takashima vom Kinderkrankenhaus in Toronto aufzeigen konnte, daß die astrogliale Proliferation bei PKT-Kindern dort am größten ist, wo auch die Blutzufuhr am geringsten war, schloß Naeye, daß seine Ergebnisse nicht auf eine vorherige Schädigung des Atemzentrums hinwiesen, sondern auf Verletzung durch Hypoxie als Ursache für die Unterentwicklung des Glomus caroticum und die Proliferation astroglialer Fasern.

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