Karl Abraham

Karl Abraham, der erste Psychoanalytiker in Deutschland, gilt heute als der bedeutendste Schüler und Mitarbeiter Sigmund Freuds. Seine Schriften zählen zu den klassischen Grundlagentexten der Psychoanalyse. Seit die Nationalsozialisten sie 1933 verbrannten, waren sie unzugänglich. Erst 1969 unternahm der S. Fischer Verlag die Herausgabe eines Bandes gesammelter Schriften Karl Abrahams unter dem Titel PSYCHOANALYTISCHE STUDIEN ZUR CHARAKTERBILDUNG. Die überraschend positive Aufnahme dieser Auswahl, auch und gerade in Kreisen außerhalb der engeren Fachwelt, bewog dann den S. Fischer Verlag und den Herausgeber Johannes Cremerius, dem ersten Band einen zweiten hinzuzufügen. Zusammen erhielten sie den Titel PSYCHOANALYTISCHE STUDIEN. GESAMMELTE WERKE IN ZWEI BÄNDEN.

Nachdem das große Autodafé des Jahres 1933 über die psychoanalytische Literatur dahingegangen war, dem dann der Krieg mit einer zweiten Vernichtungswelle folgte, gab es nach 1945 keine Möglichkeit, das Werk Karl Abrahams kennenzulernen. Nicht einmal an den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten standen den Studenten alle seine Schriften zur Verfügung – an den kleineren psychotherapeutischen Instituten fehlte häufig alles. Weil aber Psychoanalyse ohne die Kenntnis der Schriften der beiden bedeutendsten Schüler, Mitarbeiter und Freunde Freuds, Karl Abraham und Sándor Ferenczi, nicht studiert werden kann, entstanden überall Abschriften der wichtigsten Arbeiten dieser Autoren, die von Hand zu Hand zirkulierten. Mit der vorliegenden Edition wird zum ersten Mal wieder seit nun fünfunddreißig Jahren Karl Abrahams Werk dem deutschen Leser zugänglich gemacht.

Das wissenschaftliche Werk Karl Abrahams erstreckt sich zwischen zwei bedeutsamen Marken der psychoanalytischen Geschichte: Es beginnt mit den Anfängen der jungen Wissenschaft und endet dort, wo die große Bahnbrecher-Epoche ausläuft. Das ist der Punkt, an dem sich das Interesse von der Es-Psychologie, für welche Libido-Theorie, Frühsexualität, Symbollehre, Traumerkundung, Märchenforschung, Mythologie – Abrahams zentrale Arbeitsgebiete – so sehr bedeutsam waren, zur Ich-Psychologie verlagert. So trägt dieses Werk den Glanz und die Mühsal des Pioniertums: Glückhafte Momente des Findens, Entdeckens, der ersten Landnahme, dann des ersten großzügig-ordnenden Vermessens – aber auch das Beschwerliche des zeitraubenden, umwegigen, fehlgehenden Versuchens. Überblickt man das wissenschaftliche Werk Abrahams (insgesamt über hundert Titel), so fällt zunächst einmal die Weite seines Interesses auf: Arbeiten zur Psychosenforschung stehen neben solchen über Mythologie, Traumlehre und Völkerpsychologie, Studien über Libido-Theorie, Frühsexualität und Charakterologie neben psychoanalytischen Biographien. Aber da finden sich auch noch die Ansprache, gehalten im Hause eines Kunstfreundes "Über die Psychologie der modernen Kunstrichtungen" und ein Aufsatz, außerhalb der Fachpresse in der Neuen Rundschau veröffentlicht, "Die Psychoanalyse als Erkenntnisquelle für die Geisteswissenschaften".

Psychoanalytische Studien – Band I + II

Auszug aus Band I

Über das Geldausgeben im Angstzustand

Das Verhältnis des Neurotikers zum Geldbesitz ist in der psychoanalytischen Literatur eingehend erörtert worden. Sowohl Freud als die Autoren, die sich nach ihm mit den "analen" Charakterzügen beschäftigt haben, behandeln den neurotischen Geiz, das ängstliche Zurückhalten des Geldes aus unbewußten Motiven. Das gegenteilige Verhalten mancher Neurotiker hat, obwohl es dem Arzt in der Psychoanalyse keineswegs selten entgegentritt, nicht die gleiche Beachtung gefunden. Die Neigung zu übertriebenen Geldausgaben tritt bei manchen Neurotischen plötzlich, ja anfallsweise hervor und steht dann in einem auffälligen Gegensatz zu ihrer sonstigen Sparsamkeit.

Es handelt sich, nach einer kleinen Reihe von Erfahrungen aus meiner psychoanalytischen Tätigkeit, um eine bestimmte Gruppe von Neurotischen: Kranke, welche sich in dauernder infantiler Abhängigkeit vom elterlichen Hause befinden und von Verstimmung oder Angst befallen werden, sobald sie sich von ihm entfernt haben.

Die Patienten selbst behaupten, daß das Geldausgeben ihre Angst oder Verstimmung erleichtere. Sie haben auch rationelle Erklärungen dieser Wirkung zur Hand: das Geldausgeben erhöhe ihr Selbstgefühl, oder es lenke sie von ihrem Zustand ab. Die Psychoanalyse fügt dieser rein oberflächlichen Erklärung jedoch eine tiefere, das Unbewußte berücksichtigende hinzu.

Wie jede Psychoanalyse eines derartigen Falles aufs neue lehrt, ist es dem Kranken infolge der Fixierung seiner Libido verwehrt, sich räumlich von den Eltern oder den sie vertretenden Personen zu entfernen. Die Entfernung vom Hause bedeutet seinem Unbewußten eine Ablösung der Libido von ihren Objekten. Stets lassen sich zwei entgegengesetzte psychische Strömungen nachweisen: eine konservative im Sinne der dauernden Fixierung und eine andere im Sinne der Hinwendung zu den Objekten der Außenwelt.

Jeder Versuch der Übertragung der Libido auf neue Objekte ist bei den Kranken gerade darum mit so schwerer Angst verbunden, weil das unbewußte Verlangen danach besonders heftig und ungestüm ist. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß weibliche Kranke mit Straßenangst in besonderem Maße mit unbewußten, nicht selten auch mit bewußten Prostitutionsphantasien behaftet sind. Ihr Unbewußtes will schrankenlose Hingabe an alle; die im Bewußtsein herrschende Angst aber schränkt die Übertragung der Libido aufs äußerste ein. So werden die Kranken unfähig, von ihrer Libido freien Gebrauch zu machen, und zwar keineswegs nur im engen Sinne der eigentlichen Geschlechtsbeziehungen.

Eine weitgehende Einschränkung der genitalen Geschlechtlichkeit führt zu ersatzweiser, stärkerer Betonung anderer erogener Zonen. Die anale Erotik ersetzt die genitale in mehr oder weniger weitem Umfang. In manchen Fällen läßt sich mit großer Deutlichkeit feststellen, daß die krankhafte Fixierung der Patienten an den Vater oder die Mutter durch die Analzone vermittelt wird. Ein kleiner Ausschnitt aus einer Psychoanalyse möge das belegen.

Die Patientin, welche an schwerer Straßenangst leidet, ist völlig an ihren Vater gebunden. Ihre immer wiederholten Versuche, die Fixierung zu lösen, sind mißlungen. Diese Fixierung ist vom Vater der Patientin während ihrer Jugend dadurch sehr gefördert worden, daß er sich im Übermaß um die Darmtätigkeit des Kindes kümmerte, sehr häufig Klysmen verabreichte usw. Diese verkehrten Maßnahmen trugen zur Erhaltung kindlicher Abhängigkeit in verhängnisvoller Weise bei; die Tochter konnte – mit einem Ausdrucke der Kindersprache gesagt – nichts ohne den Vater "machen", konnte nur unter seiner Aufsicht "abseits" gehen. Wie die Analyse ergab, ließen auch ihre Ablösungsversuche die anale Fixierung erkennen. Den Darm ohne väterliche Aufsicht zu entleeren bedeutete ihrem Unbewußten Selbständigkeit. Entfernte sich die Patientin vom Hause und wurde sie unterwegs von Angst befallen, so machte sie zur Abwehr der Angst allerhand Geldausgaben, die praktisch nicht zu rechtfertigen waren. Sie verausgabte Geld statt Libido. Daß aber das Geld diese ersetzende Bedeutung annehmen konnte, erklärt sich aus der im Unbewußten herrschenden Gleichwertigkeit von Geld und Kot. Bemerkenswert ist, daß die Patientin sich selbst verdächtigte, sie steigere manchmal ihre Angst, um sich einen Grund zum Geldausgeben zu schaffen.

Bei dieser Kranken beobachtete ich, ebenso wie auch in zwei anderen Fällen, die Neigung, wahllos vielerlei zu kaufen, meist wertlose, nur für den Augenblick begehrte Kleinigkeiten. Sie täuschen sich auf diese Weise eine freie Beweglichkeit ihrer Libido vor, während diese doch in Wirklichkeit aufs äußerste fixiert und gehemmt ist. Das Kaufen von Gegenständen, die nur einen Augenblickswert haben, das schnelle Übergehen von diesem Gegenstand zu jenem, wirkt als symbolische Befriedigung eines verdrängten Begehrens: die Libido in rascher Folge auf unbegrenzt viele Objekte zu übertragen. Die Anspielung auf die Prostitution ist hier nicht zu verkennen; auch dort vermittelt das Geld flüchtige, beliebig wechselnde Beziehungen.

Die Auffassung der Patienten, sie gäben Geld aus, um ihr Selbstgefühl zu erhöhen, erfährt nun in gewissem Sinne eine Bestätigung. Das Geldausgeben täuscht sie über die Gebundenheit der Libido und damit über das peinigende Gefühl sexueller Insuffizienz für kurze Zeit hinweg. Anders ausgedrückt: die Kranken stehen unter einem abnorm strengen, von der Eltern-Imago ausgehenden Verbot, ihre Libido frei zu verausgaben. Es kommt zum Kompromiß zwischen Trieb und Verdrängung. Die Kranken verausgaben sich dem Verbot zum Trotz, aber nicht in sexueller Libido, sondern in analen Werten.

Wir werden hier an das dauernde Verhalten gewisser Neurotiker erinnert, deren Libido gleichfalls übermäßig gebunden ist. Sie sind – teilweise oder ganz – unfähig zur sexuellen Liebe im seelischen und körperlichen Sinne. Sie wenden den anderen Menschen nicht Liebe, sondern Mitleid zu, sie werden zu Wohltätern und geben an Geldeswert oft im Übermaß. Sie sind auf diese Ersatzbefriedigung dauernd angewiesen. In der dunklen Wahrnehmung, qualitativ nicht das Richtige zu geben, übertreiben sie das Geben quantitativ. Ihr Geldausgeben wirkt jedoch altruistisch, während in den vorher besprochenen Fällen diese Wirkung durchaus fehlt. Das Gemeinsame beider Gruppen liegt aber darin, daß das Geldausgeben einen Ersatz für die von der Neurose verbotene Sexualübertragung bildet und zur Abwehr neurotischer Störungen dient. ...