Auszüge aus Albrecht Müller's
"Reformlüge"

40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren

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Vorwort

Dieses Buch ist in gewissem Sinn eine Auftragsarbeit. Es ist auf Anregung von Freunden geschrieben worden, die sich der herrschenden öffentlichen Debatte gegenüber hilflos fühlen. Sie sind einem wahren Bombardement von Publikationen ausgesetzt – von Meinhard Miegel und Oswald Metzger, von Hans-Werner Sinn und Gabor Steingart, von Arnulf Baring und Frank Schirrmacher und vielen anderen. Immer wieder lesen und hören sie, wie schlecht es uns geht und daß wir Reformen brauchen. Viele meiner Freunde sind beeindruckt davon, wie dramatisch unsere Lage geschildert wird. Zugleich spüren sie aber, daß daran irgend etwas nicht stimmt. Sie haben ein offenes Ohr für das Wort "Reform". "Reformpolitik", das hört sich gut an. Aber der ökonomische Erfolg bleibt bislang aus, das Land taumelt von einer Reform zur nächsten und versinkt zusehends in Orientierungslosigkeit und Depression.

Diese Erfolglosigkeit ist um so bemerkenswerter, als die Meinungsführer im Lande nahezu einhellig dieselben Rezepte propagieren. Ökonomisch nicht besonders vorgebildete Politiker, auch Intellektuelle und sogenannte Experten, Journalisten und die erwähnten Autoren verordnen dem Land tiefgreifende Strukturreformen, also den Abbau und den Umbau des Sozialstaates in einem Ton, als hätten ihre Konzepte sich längst als die einzig richtigen und wahren erwiesen. Daß ein Teil der Wissenschaft und ein Teil der Wirtschaftsverbände diese Reformen für richtig halten, ist ihr gutes Recht. Doch gehört zu einer wirklichen Debatte nicht der Austausch konträrer Meinungen? Kann es wirklich sein, daß in der Wirtschaftspolitik gilt, was es auf keinem anderen Politikfeld gibt: die eine, seligmachende Erkenntnis? Kann es wirklich sein, daß das, was so lange Jahre funktionierte, nämlich die soziale Marktwirtschaft bundesdeutscher Prägung, von heute auf morgen obsolet ist? Machen die Vorschläge zur Erneuerung unseres Gesellschaftssystems wirtschaftlich überhaupt Sinn? Und wie kann der "normale Bürger", der nicht Ökonomie studiert hat, nachprüfen, ob die Argumente, die in der Debatte verwendet werden, auch wirklich stimmen?

Alternativen werden kaum angeboten, es sei denn, man studiert auch kleinere Publikationen, die abseits des Mainstreams liegen. Hier setzt mein Buch an. Es soll all jenen Fakten und Argumentationshilfen geben, die das Gefühl haben, daß die eingeschlagene Linie nicht stimmen kann, und die nicht Spielball derer sein wollen, die in der Öffentlichkeit das große Wort führen. Nicht nur sogenannte Linke oder Gewerkschafter oder sozial Engagierte, auch Konservative und rational denkende Unternehmer tun sich mit dem niedrigen Niveau und der Einseitigkeit der öffentlichen Debatte schwer. Für sie ist dieses Buch.

Die gängige Reformpolitik leidet nicht nur unter einem Defizit an Gerechtigkeit. Genauso schlimm ist ihre Unwirksamkeit. In Deutschland wird seit gut zwanzig Jahren auf neoliberale Weise reformiert. Ohne nachhaltigen Erfolg. Die wirtschaftliche Lage wurde immer kritischer. Daß die neoliberale Bewegung dennoch die Herrschaft über das Denken erreicht und behalten hat, ist eine strategische Meisterleistung. Wer diese Strategien durchschaut, weiß, warum bei uns parteiübergreifend Reformen gefordert und gemacht werden, die nichts bringen. Darum analysiere ich auch die Methoden und Hintergründe dieser Meinungsprägung.

Seit Beginn meiner beruflichen Tätigkeit als junger Nationalökonom an der Münchner Universität und dann später als Mitarbeiter von Karl Schiller, Willy Brandt und Helmut Schmidt beschäftigt und fasziniert mich dieser Fragenkomplex: der Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung und der Qualität politischer Entscheidungen. Wie kommen wir zu guten, erfolgversprechenden und zukunftsweisenden politischen Entscheidungen? Welche Rolle spielen dabei die öffentliche Meinung und die Medien? Wer prägt die öffentliche Meinung, und wie geschieht das? Werden wir manipuliert, und wie können wir uns gegebenenfalls dagegen wappnen?

Als mich der damalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) 1968 als Ghostwriter nach Bonn holte, hatte er zusammen mit dem damaligen Finanzminister Franz-Josef Strauß (CSU) die erste Wirtschaftsrezession der Bundesrepublik gerade erfolgreich überwunden. Mit Konjunkturprogrammen und vor allem mit Stimmungsmache. Plisch und Plum, wie Schiller und Strauß liebevoll spottend genannt wurden, hatten mit Parolen wie "Die Richtung stimmt" und "Die Pferde müssen wieder saufen" und mit unendlich vielen, Optimismus verbreitenden Zahlen die öffentliche Meinung und vor allem die Unternehmer davon überzeugt, daß es aufwärts geht. Innerhalb von zwei Jahren war die Rezession überwunden.

Wer das erlebt hat oder im Rückblick erfährt, muß sich im Hinblick auf heute fragen: Warum machen wir’s nicht wieder so? Was ist anders? Wie kommt es zu der fast schon hysterisch pessimistischen Stimmung, die uns heute zu schaffen macht? Woran scheitern die zaghaften Versuche der Bundesregierung, gegen Mutlosigkeit und Schwarzmalerei anzugehen? Ist die nun schon seit Anfang der neunziger Jahre währende Unfähigkeit, die Kapazitäten unserer Volkswirtschaft voll zu nutzen und genügend Arbeitsplätze zu schaffen, sachlich bedingt oder ist sie eher die Folge einer irregeleiteten Meinungsbildung und Entscheidungsfindung?

Willy Brandt, mit dem ich ab 1970 als sein Wahlkampfmanager und später als Planungschef im Bundeskanzleramt arbeitete, war in seinen guten Zeiten ein Meister darin, die Öffentlichkeit von der Richtigkeit einer politischen Entscheidung zu überzeugen. Beispielsweise kämpfte er die Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze auch gegen eine zunächst widerstrebende und skeptische Öffentlichkeit durch. Hätte er sich dem Mainstream angepaßt, hätten wir noch lange auf das Ende der Ost-West-Konfrontation warten müssen. Auch zu seiner Zeit haben große Interessen immer wieder versucht, über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung Einfluß auf die Politik zu nehmen. Meist ist es Brandt gelungen, diese Versuche abzuwehren, beispielhaft im Wahljahr 1972.

Warum ist das heute soviel anders? Warum bestimmen heute die Interessen der Topeliten so sehr die öffentliche Debatte und damit auch weitgehend die politischen Entscheidungen?

Zu Willy Brandts Zeiten spielte der Begriff "Reformen" ebenfalls eine zentrale Rolle. Reformen waren damals aber in der Regel Veränderungen zugunsten breiter Kreise der Bevölkerung. Ganz anders in unserer Zeit. Heute gehen sie vor allem zu Lasten der mittleren und unteren Einkommen. Ist dieser politische und semantische Wandel sachlich bedingt?

Helmut Schmidt, für den ich ab 1974 als Planungschef im Bundeskanzleramt tätig war, führte 1976 den Begriff "Modell Deutschland" in die öffentliche Debatte ein. Das war eine gedankliche Klammer für unsere auf Dialog und Verständigung setzende Rolle in der Welt einerseits und die soziale Prägung unseres Landes und seinen wirtschaftlichen Erfolg andererseits. Soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und sozialer Friede seien wichtige Bedingungen für das wirtschaftliche Wohlergehen, lautete einer der zentralen Gedanken. Damals war es möglich, Mehrheiten für diesen Gedanken zu gewinnen. Es war auch möglich, wenigstens größere Teile der Eliten und der Meinungsführer in den Medien und in der Wissenschaft, in der Wirtschaft und im Bürgertum dafür zu erwärmen, daß auch die Bessergestellten es besser haben in einem Land, in dem es einigermaßen gerecht zugeht.

Wie kommt es, daß dies heute ganz anders gesehen wird? Ist das Einsicht? Ist es das Ergebnis von Propaganda und Manipulation? Muß das "Modell Deutschland" Vergangenheit sein? Wie spielen hier Meinungsmache und Sachzwang zusammen? Welche Rolle spielen Interessen?

Sozialstaatlichkeit und soziale Sicherheit waren integrale Bestandteile dieses Gesellschaftsmodells. Die Mehrheit der Menschen sieht das auch heute noch so. Das Grundgesetz will es nach wie vor so. Wie kommt es, daß das Wort "Sozialstaat" bei den Meinungsführern dennoch einen so schlechten Klang bekommen hat? Wie ist es möglich, daß die übliche Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen über Beiträge, daß die Lohnnebenkosten eine so überaus negativ besetzte Karriere in der politischen Debatte machen konnten? Was an dieser Entwicklung ist sachlich bedingt? Was ist die Folge von Öffentlichkeitsarbeit, von Manipulation oder sogar von "Brainwashing"?
Mitte der siebziger Jahre hatten wir schon einmal eine öffentliche Diskussion um das sogenannte demographische Problem; vom "sterbenden Volk" war die Rede; einige Demographen und der Innenminister empfahlen eine Geburtenprämie von 2000 DM. Der damalige Bundeskanzler hat anders reagiert als der heutige. Helmut Schmidt machte sich damals Sorgen um die weltweite Bevölkerungsexplosion, er empfahl anderen Regierungen eine Politik zur Geburtenkontrolle und kritisierte den Papst, weil die katholische Kirche in ihrem Einflußbereich die notwendige Geburtenkontrolle so sehr erschwerte. In Anbetracht dieses Versuchs der deutschen Regierung, für Geburtenkontrolle bei anderen zu werben, hielt er es für unglaubwürdig und nicht möglich, zu Hause eine aktive Geburtenpolitik zu betreiben. Deshalb dämpfte und beruhigte er die öffentliche Debatte.

Heute reagieren die Meinungsführer und die Bundesregierung ganz anders. Die Diskussion um das demographische Problem verläuft ausgesprochen emotional. Die zuständige Ministerin setzt sich mit der Gründung einer Aktionsgemeinschaft an die Spitze einer aktiven Bevölkerungspolitik. Wie kommt es zu dieser so anderen politischen Reaktion? Welche Rolle spielt die öffentliche Debatte, und wer speist sie? Ist diese Reaktion sachlich bedingt oder von Interessen bestimmt? Sind die so vehement verbreiteten Sorgen überhaupt berechtigt? Ist die heute gängige Behauptung, das sogenannte demographische Problem zwinge zu tiefgreifenden Strukturreformen, die sozialen Sicherungssysteme seien so nicht mehr haltbar, sachlich begründet oder ist sie ein Propagandatrick?

Wenn ich an einige frühere Vorgänge erinnere, will ich nun partout nicht den Eindruck erwecken, früher sei alles besser gewesen. Ich will damit lediglich bewußtmachen, wie sehr heute politische Entscheidungen von der öffentlichen Meinung abhängen und wie sehr deshalb auch die Qualität der politischen Entscheidungen von der Qualität der Meinungsbildung bestimmt wird. Diese Meinungs- und Willensbildung wird heute in starkem Maße von den Medien geprägt.

Um die Qualität der Meinungsbildung ist es aus verschiedenen Gründen nicht zum besten bestellt. Sie leidet unter dem Zugriff großer Interessen. Wer politisch etwas erreichen will, versucht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und notfalls auch zu manipulieren. Ein Indiz dafür ist, daß jener Wirtschaftszweig, der dabei hilft, beachtlich expandiert: Public Relations. Die Qualität der Meinungsbildung leidet weiter darunter, daß es den Zielpersonen der Meinungsbeeinflussung – uns allen – zunehmend an Durchblick mangelt. Die allgemeine öffentliche Debatte verlagert sich nämlich zusehends in den Bereich der Ökonomie. Vielen Menschen sind wirtschaftspolitische Zusammenhänge fremd, und sie sind unsicher, was man ihnen nicht verdenken kann. Da sie sich aber verständlicherweise trotzdem ein Urteil bilden wollen, werden sie leicht zum Opfer von Interessen und von weitverbreiteten Klischees und Denkfehlern.

Im November 1999 habe ich für das Kritische Tagebuch – eine Sendereihe des Westdeutschen Rundfunks – fünf der gängigen Behauptungen über die Ursachen unserer wirtschaftlichen Probleme analysiert und dabei beschrieben, welche Vorurteile und Denkfehler diesen Behauptungen zugrunde liegen. Im Gespräch mit Freunden ist daraus eine lange Liste geworden. Sie wollten von mir, dem Nationalökonomen, wissen: Kommen wir wieder runter von den Milliardenschulden des Staates? Sind wir national noch handlungsfähig? Ist der Bedarf nicht schon lange gesättigt? Haben die Gewerkschaften nicht viel zuviel Macht? Wie werden wir mit der sinkenden Geburtenrate fertig, und können wir das Problem der Überalterung überhaupt noch lösen? Und stimmt es oder stimmt es nicht, wenn gesagt wird, die Globalisierung sei eine neue Herausforderung, Konjunkturprogramme wirkten nicht, wir lebten über unsere Verhältnisse, der Staat sei zu "fett", die Lohnnebenkosten seien unser Schicksal? Und so weiter und so fort.
Die 40 verbreitetsten Denkfehler und Vorurteile, Lügen und Legenden sind in Teil II dieses Buch skizziert und analysiert. Da ich nicht annehme, daß sich jeder Leser mit allen Vorurteilen, die die öffentliche Debatte prägen, gleichermaßen auseinandersetzen will, ist dieser Teil so aufgebaut, daß Sie ihn wie ein Nachschlagewerk benutzen können. Hier finden Sie auch Daten und Analysen wirtschaftlicher Zusammenhänge, mit deren Hilfe Sie die gängigsten Legenden als solche enttarnen können; zugleich finden Sie hier Argumente, um in der Diskussion um Reformen und den richtigen Weg in die Zukunft zu bestehen. Ich verbinde damit die Hoffnung, daß dieses Buch einen Beitrag zu einer rationaleren öffentlichen Debatte leistet, indem es Anstöße für kritische Fragen gibt. Ich will nicht die Indoktrination der einen Seite durch eine andere ersetzen. Ich will dazu ermuntern, sich selbst ein Bild zu machen und hinter die Kulissen der Meinungsbildung zu schauen.

Die Reformer haben ein Handicap. Um den angeblichen Reformstau als glaubwürdig erscheinen zu lassen, müssen sie unser Land in schwarzen Farben malen, und sie tun das mittels einer Fülle von dramatisierenden Veröffentlichungen. Der Sinn dieser Schwarzmalerei wird jedoch inzwischen von vielen Menschen hinterfragt. Dem entspricht die Grundlinie dieses Buches. Es ist optimistisch und konstruktiv und widerspricht der destruktiven Grundeinstellung der heute führenden Eliten.

In den Text, in die Tabellen und Grafiken sind unzählige Daten eingeflossen. Diese mußten recherchiert, interpretiert und aufbereitet werden. Die Thematik ist breit. Ich war deshalb auf Anregungen und die Hilfe anderer angewiesen und bin dankbar für die engagierte und sehr, sehr hilfreiche Unterstützung von Brigitte Baetz und Mario J., Dietrich Krauß, Peter Munkelt, Ingeborg Treier und nicht zuletzt Claus F. Hofmann, den ich bei der Recherche als großen Experten für Daten zur Lage unserer Volkswirtschaft kennenlernte. – Eine große Hilfe waren auch eine Reihe von Weggenossen, die sich meist wissenschaftlich mit einschlägigen Themen beschäftigt haben: Michael Dauderstädt, Herbert Ehrenberg, Heiner Flassbeck, Richard Hauser, Hans-Jürgen Krupp und Klaus Staeck. Ihre Texte, Artikel und Vorträge sind voller Anregungen und Datenmaterial, als Gesprächspartner sind sie eine unerschöpfliche Quelle für Ideen. – Meine Frau Anke Bering-Müller und Tochter Nele haben den Streß des Bücherschreibens nicht nur geduldig ertragen. Sie haben mich in der Sache unterstützt, weil das Projekt auch sie reizt.

Die Hans-und-Traute-Matthöfer-Stiftung hat die Recherchen und andere wissenschaftliche Zuarbeit zum Projekt finanziell unterstützt. Den Stiftern gebührt ein großes Dankeschön.

Unter dem Deckmantel der Reform – Hintergründe und Ziele

"Wäre es nicht an der Zeit, nach fünfzig erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen?" Josef Ackermann, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt am Main 2003

"Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 20 Absatz 1

Nach der Reform ist vor der Reform

Man muß Josef Ackermann dankbar sein. Der Chef der Deutschen Bank hat die Irrationalität der Reformdebatte in zwei Halbsätzen schön zusammengefaßt, als er sagte: "Wäre es nicht an der Zeit, nach fünfzig erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen?" Erstens sind wir also mit dem Modell unseres Zusammenlebens und unseres Wirtschaftens fünfzig Jahre lang gut gefahren; und zweitens ist es jetzt an der Zeit, seine Strukturen neu zu entwerfen. Wir hatten Strukturen, die uns ein halbes Jahrhundert Erfolg, das heißt einigermaßen verläßlichen Wohlstand und soziale Sicherheit verschafften, und deshalb brauchen wir jetzt neue?!

Josef Ackermann kann etwas so Einfältiges öffentlich äußern, weil er sich wie der Fisch im Wasser fühlt. Die Meinungsführer unseres Landes glauben inzwischen unisono an den "Reformstau" als entscheidende Ursache unseres wirtschaftlichen Unheils und an die heilsame Wirkung von grundlegenden Reformen: Deutschland leide unter seiner Reformunfähigkeit und sei deshalb Schlußlicht in Europa, von "German Disease", der "Deutschen Krankheit", ist die Rede, der Sozialstaat, das Modell Deutschland seien nicht mehr zeitgemäß, die sozialen Sicherungssysteme nicht mehr finanzierbar, die Steuern und Abgaben zu hoch, die Bürokratien seien unerträglich, und Besitzstandswahrer bedrohten unsere Zukunft – so variiert die Diagnose in ihrer Einseitigkeit. Die Therapie beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Schuldenberg lautet: Modernisierung, Ruck, Strukturreformen, die permanente Reform unserer sozialen Sicherungssysteme, den Leuten mehr zumuten, mehr Eigenverantwortung, weniger Staat, mehr Privatisierung und weniger Regulierung.

Und wie wunderbar: alle, fast alle bewegen sich. Und alle, fast alle Kommentatoren vermerken anerkennend, daß die Parteien mit Reformsignalen aufeinander zugehen. Nur schneller könnte das alles gehen, mehr Bewegung bitte! Und die Politik reagiert.

Nachdem zum Jahreswechsel 2002/2003 der letzte Widerstand in der SPD- und Bündnis90/Grünen-Führung gegen das Konzept grundlegender Reformen verschwunden war, erlebten wir eine Reformorgie: Die Rürup-Kommission präsentierte ein Bündel von Vorschlägen – von der Anhebung des Renteneintrittsalters bis zur Absenkung des Rentenniveaus –, Opposition und Regierung debattierten und beschlossen Eckpunkte der Gesundheitsreform:

  • die Regierung schlug die Reform der Pendlerpauschale vor,
  • Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement (SPD) plädierte für die Einführung von Studiengebühren, für die Aufweichung der Tarifverträge, im Notfall für Lebensmittelkarten für Arbeitslose und für die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre,
  • aus der SPD-Bundestagsfraktion kam der Vorschlag, die Riesterrente zur Pflicht zu machen,
  • der thüringische Ministerpräsident Althaus (CDU) legte den vollständigen Ausstieg aus dem umlagefinanzierten Rentensystem nahe,
  • die Gesundheitsministerin warb für die Bürgerversicherung, auch Außenminister Fischer plädierte dafür und dann wieder nicht,
  • Angela Merkel (CDU) forderte die Erhöhung der Arbeitszeit im Westen,
  • der (damalige) SPD-Generalsekretär Scholz wollte das Verständnis von Gerechtigkeit reformieren,
  • FDP-Fraktionschef Gerhardt forderte, weitere Kassenleistungen, wie beispielsweise private Unfälle, aus der Krankenversicherung auszugliedern,
  • die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt war für die Abschaffung der Pflegeversicherung und überhaupt für die permanente Revolution.

Die Modernisierer unter unseren Zeitgenossen konnten sich über den Sommer und auch über den Herbst 2003 wahrlich nicht beschweren. Selbst ohne den Reformvorschlag des Vorsitzenden der Jungen Union, den Alten über 85 keine Hüftgelenke aus Kassenmitteln mehr zu bezahlen, war es eine tolle Zeit.

Zum Jahresende 2003 steigerte sich die Reformanstrengung in Politik und Talkshows. Gemeinsam verabschiedeten Bundestag und Bundesrat am Freitag vor Weihnachten ein Reformpaket, das auf der Basis der von Gerhard Schröder vorgelegten Agenda 2010 im Vermittlungsausschuß erarbeitet worden war. Am selben Freitag noch verkündeten die Stichwortgeber von Publizistik und Politik, von Wissenschaft und Lobby in Presseerklärungen, Interviews und Talkshows: "Nach der Reform ist vor der Reform!" Und dann ging es richtig los mit neuen Vorschlägen – zur Steuerreform, obwohl gerade beschlossen worden war, die dritte Stufe der im Jahr 2000 verabschiedeten Steuerreform zur Hälfte von 2005 auf 2004 vorzuziehen, und zur Gesundheitsreform, obwohl das gerade beschlossene Reformpaket im Kern diesem Thema galt. Die eine Reform war noch gar nicht implementiert, da wurde schon die nächste zum gleichen Thema vorgeschlagen und heftig darüber diskutiert.

Politiker und Wissenschaftler überboten sich in der Präsentation möglichst umwälzender Reformvorschläge. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle machte den Systemwechsel zu seinem Markenzeichen. Die Opposition warnte den Bundeskanzler davor, in die "Politik der ruhigen Hand" zurückzufallen; Bundeskanzler Schröder bekräftigte seinen Reformwillen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende und spätere Parteivorsitzende Müntefering erklärte stolz, daß er und seine Partei "die Spur gelegt haben". Die CDU-Vorsitzende Merkel und ihr Stellvertreter Merz prahlten damit, daß ihr Steuerreformkonzept radikaler sei als das von der CSU. "Wer bietet mehr?", das scheint das Motto der modernen Reformpolitik zu sein. Und der Politik insgesamt. Und immer wieder neue Talkshows zum alten, ewig gleichen Thema. Es gibt kein anderes Thema, das in den Meinungsführerzirkeln auch nur annähernd die Aufmerksamkeit erreicht wie "Reformen".

Auch die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der katholischen Bischöfe meldete sich zu Wort. Die deutschen Bischöfe setzten sich "für eine langfristig angelegte Reformpolitik" ein und wollten "das Soziale neu denken". "Keine der großen Säulen des Sozialstaats ist ohne tiefgreifende strukturelle Korrekturen zukunftsfähig", meinten sie, doch was sie konkret wollen, sagten sie nicht. Klar ist: Sie wollen Bewegung; auch die Arbeitgeber wollen Bewegung und drücken aufs Tempo.
Die Deutsche Bank darf da nicht fehlen; am 20. Februar 2004 kam ihre Forschungsabteilung mit einem forschen Papier zum Thema "Reformstau – Ursachen und Lösungen" an die Öffentlichkeit. Darin wird behauptet, die Rezepte für eine effizientere und dynamischere Wirtschaft lägen auf dem Tisch. Aber: "Wieso werden sie nicht angewendet?" Diese Frage mußte für den Bundeskanzler ganz besonders bitter sein, bemühte er sich zu diesem Zeitpunkt doch schon weit über ein Jahr um die Umsetzung der Rezepte. Er hatte dafür sogar mit einem großen Wählerverlust für seine Partei und dem Verzicht auf das Amt des Vorsitzenden gebüßt. Aber was soll’s? Die Deutsche Bank kümmerte das so wenig wie all die anderen Reformer. Sie schwelgen im Rausch der Reformen. Was in der Realität passiert, ist ziemlich irrelevant.

Als im Februar 2004 der Ifo-Geschäftsindex – das Ergebnis einer Befragung von Unternehmern und Unternehmen zu Stimmung und Auftragslage der Wirtschaft – einen Einbruch signalisierte, wußte der Börsenreporter des ZDF davon zu berichten, dies werde als Reaktion auf die lahmende Reformbereitschaft – gemeint ist die der SPD und des Bundeskanzlers – verstanden. Tatsächlich brach die Konjunktur dann im März/April 2004 wieder ein. Die wirtschaftsliberalen Rädelsführer nutzten jede Gelegenheit, um sich von Gerhard Schröder und seinen Reformbemühungen abzusetzen und gleichzeitig den Druck weiter zu erhöhen. Selbst die Übergabe des Parteivorsitzes an Franz Müntefering wurde als Abkehr von der Reformpolitik gedeutet, um sogleich die erkennbaren Flops nicht dem fatalen Konzept, sondern dem Bundeskanzler, seinem Zögern und insbesondere der SPD zuzuschreiben.

Bei alldem darf natürlich nicht fehlen, daß sich internationale Organisationen zu Wort melden und die Länder Europas, allen voran Deutschland, zu Strukturreformen ermahnen. Auch dem neuen Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) fiel nichts anderes ein, obwohl wir es von ihm eigentlich anders erwartet hätten: Jean-Claude Trichet appellierte an die Regierungen der Europäischen Währungsunion, die versprochenen Strukturreformen umzusetzen. Gemessen an ihrem Potential verliere die Eurozone wegen der verzögerten Reformen jedes Jahr 0,4 Prozentpunkte, berichtete die Financial Times Deutschland am 17. Februar 2004. Die Begründung von EZB-Chef Trichet war geradezu klassisch:

"Wenn unsere Wirtschaft flexibler wäre, würden wir vielleicht jährlich 0,4% mehr Wachstum haben." Man muß sich den Satz auf der Zunge zergehen lassen: mit einem "vielleicht" drückt sich Trichet vor einer Festlegung, nennt aber dann eine präzise Zahl: 0,4%. Wie aus den Reformen Wachstum folgen solle, sagt er nicht. Von diesem Niveau, von dieser "Eindeutigkeit" sind die meisten der Einlassungen über die Wirkungszusammenhänge zwischen Reform und wirtschaftlicher Belebung.

Das Elend der Reformdebatte: kollektiver Wahn

Die öffentliche Debatte wird von dem "Gedanken" bestimmt, unsere wirtschaftliche Misere und die Finanzkrise der sozialen Sicherungssysteme seien die Folge von Reformunfähigkeit. Ohne Zweifel haben wir wie jede moderne Gesellschaft zu jeder Zeit Reformbedarf. Aber daß die hohe Arbeitslosigkeit, die Zahl der Insolvenzen und die Wachstumsschwäche unserer Volkswirtschaft, daß die hohen Schulden des Staates und die Haushaltsprobleme vieler Kommunen, daß die wirtschaftliche Stagnation und das Elend in vielen Regionen Ostdeutschlands vor allem eine Folge mangelnder Reformfähigkeit unseres Staates seien, das ist ein wahnhaftes Gedankenkonstrukt, eine gedankliche Obsession. Und dennoch glauben die Eliten das, von rechts bis links, von konservativen Managern bis zu ehedem linken Intellektuellen – fast ohne Ausnahmen. Sie machen sich diese Sicht der Dinge zu eigen und multiplizieren sie massenhaft.

Mit der Lösung unserer drängenden Probleme hat die aktuelle Reformdebatte nichts, aber auch gar nichts zu tun. Unser Kernproblem ist die Belebung unserer wirtschaftlichen Tätigkeit, die Überwindung der Stagnation, der schon spürbaren Rezession und damit die Verbesserung der Auslastung der Kapazitäten unserer Volkswirtschaft. Daß über 4 Millionen Menschen keine Arbeit haben, ist Zeichen dieser Unterauslastung. Ende 2003 lag die Kapazitätsauslastung beim verarbeitenden Gewerbe nur knapp über 80%. Rund 150 Milliarden Euro Sozialprodukt gehen uns jährlich dadurch verloren, weil unsere Kapazitäten nicht ausgelastet sind. Wenn uns eine bessere Auslastung dieser Potentiale gelänge, könnten wir viele der jetzt drückenden Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme mildern, wenn nicht lösen.
Statt dessen jagen unsere Spitzenpolitiker und die ihnen zuarbeitenden Wissenschaftler fast jeden Tag eine andere Reformsau durchs Dorf. Sie trägt zwar nichts zur Lösung der Probleme bei, sondern führt nur zu zusätzlicher Verunsicherung, aber Bewegung ist ja bekanntlich alles. Daß die Sau orientierungslos ist, kümmert zumindest die deutsche Elite wenig, denn die Meinungsführer unseres Landes bilden einen geschlossenen Kreis. Ihre Debatten nähren sich quasi selbst, durch gegenseitige Bestätigung gewinnen sie an Bedeutung, obwohl sie ohne jede Bodenhaftung sind. Das Publikum steht staunend daneben:

  • Die gesetzliche Pflegeversicherung streichen? – Aber die fing doch gerade erst an!
  • Bis 67 arbeiten? – Aber die meisten hören doch eh früher auf und sind oft ausgebrannt!
  • Längere Wochenarbeitszeiten? – Aber es ist doch ohnehin zuwenig Arbeit da!
  • Die Riesterrente zur Pflicht machen? – Aber dann hätte man doch gleich bei der gesetzlichen Pflichtversicherung bleiben können!
  • Die Lohn- und Einkommensteuer leistungsfördernd umbauen? – Aber gerade wurden doch ein neuer Eingangstarif und ein neuer gesenkter Spitzensteuersatz installiert! Und die nächste Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 42% ist schon beschlossen!
  • Eine neue, ganz andere Gesundheitsreform? – Aber wir versuchen uns doch gerade erst an die neue Praxisgebühr und die Ausgliederung des Krankengeldes zu gewöhnen!
  • Und so weiter und so fort.
Seit fast einem halben Jahrhundert beobachte ich die politischen Abläufe. In all diesen Jahren habe ich noch keine Zeitspanne erlebt, in der die politische Debatte so von Merkwürdigkeiten und intellektuellen Zumutungen geprägt war wie heute. Seit Jahren führen wir eine Diskussion, die sich thematisch abgelöst hat von dem, was das Hauptanliegen sein sollte: Statt ideologiefrei über die Verbesserung der Konjunktur zu reden, wird der Umbau/Abbau der sozialen Sicherungssysteme forciert – und zwar von allen wichtigen Parteien, von wichtigen Gruppen in Wissenschaft, Wirtschaft und Medien. Statt sich auf die Stärken des Landes zu besinnen und darauf aufzubauen, wird Deutschland systematisch schlecht geredet. Statt eine offene Diskussion mit allen gesellschaftlichen Gruppen zu führen, stellen sich die Eliten mit ihren politischen Forderungen gegen die Wünsche und den Willen der Bevölkerungsmehrheit, die den Sozialstaat erhalten will (nähere Informationen dazu unter Denkfehler Nr. 32, S. 313). Einige der als wichtig erachteten Reformen, wie zum Beispiel die Privatisierung der Altersvorsorge, leiten die Erosion sozialstaatlicher und solidarischer Lösungen ein und widersprechen damit Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes, wonach die Bundesrepublik "ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist", andere Vorhaben wie die Abschaffung der Tarifautonomie berühren das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Koalitionsfreiheit. Das läuft auf den von Josef Ackermann geforderten Strukturwechsel hinaus, der ein Systemwechsel ist. Wer sich widersetzt, wie zum Beispiel die gut 500.000 Menschen, die am 3. April 2004 auf die Straße gingen, um gegen den Sozialabbau zu demonstrieren, wird als Besitzstandswahrer und als uneinsichtig verunglimpft.

Zum Teil bekennen die Eliten offen, daß sie gegen die Mehrheit agieren. Die Zeitschrift Stern beschrieb dies treffend als "Revolution von oben". Diese Revolution von oben ist begleitet von massiven finanziellen Interessen. Sie wird zum einen möglich, weil große Teile unserer Meinungsführer in Fragen der Ökonomie Denkfehlern und Vorurteilen, Lügen und Legenden erliegen, wie sie in Teil II dieses Buches beschrieben werden. Sie wird zum anderen auch deshalb möglich, weil eine kritische Öffentlichkeit, die diesen Namen verdient, kaum noch existiert und einer in Teilen systematischen Meinungsbeeinflussung erliegt. Besonders dramatisch ist diese Revolution, da sie das Wichtigste, was sie verspricht, überhaupt nicht hält: nämlich für wirtschaftliche Gesundung zu sorgen. Statt auf Vernunft und Effizienz hinzuwirken, beschert sie uns einen kurzsichtigen Aktionismus, der dem Land und den meisten seiner Bürger auf Dauer Schaden zufügt und ihm schon jetzt schwer geschadet hat.

Ahnungslose Reformer, wirkungslose Reformen

In den meisten Reden über Reformen wird nicht näher erläutert, warum sie funktionieren sollen, es wird einfach behauptet, daß sie es tun. Einigermaßen plausible Belege dafür gibt es nicht.

Wie sollen Strukturreformen, wie soll der geforderte Ruck den Arbeitslosen Arbeit bringen? Was haben die vielen Konkurse mit dem angeblichen Reformstau zu tun? "Weniger Steuern, weniger Abgaben, weniger Staat", heißt es in der Göttinger Erklärung der CDU – aber wie daraus mehr Beschäftigung folgen soll, wird nicht erläutert. Wie funktioniert das konkret? Wenn Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung zum einjährigen Jubiläum der Agenda 2010 am 25. März 2004 behauptet, "in der Steuerpolitik haben wir Impulse für Investitionen und Gerechtigkeit ausgelöst", wie sieht der Wirkungszusammenhang zwischen seiner Steuerpolitik und den Investitionen dann konkret aus? Über welchen Wirkungsmechanismus soll zum Beispiel die von Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und anderen immer wieder geforderte Erhöhung des Renteneintrittsalters die Wirtschaft beleben? Wie soll das funktionieren, wenn mitten in einer Rezession die Wochenstundenzahl wieder auf 40 oder gar 42 Stunden erhöht wird? Wie sollen uns die von Großbritannien entlehnten Privatisierungen und Deregulierungen aus der ökonomischen Patsche helfen? Wo war der Wirkungszusammenhang bei der Einführung der Greencard oder der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten? Was hat man uns da nicht alles an positiven Wirkungen für mehr Arbeitsplätze versprochen! 50.000 zusätzliche Stellen sollte die Reform des Ladenschlußgesetzes bringen. Die Logik dieser Behauptung war nie einsehbar. Und so kam, was absehbar war: weder mehr Umsatz noch mehr Beschäftigung.

Es fällt schwer, die immer wieder angebotenen Konstrukte nicht polemisch zu hinterfragen, gleichgültig, ob es sich dabei um die programmatische Erklärung der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel zur "Neuen Sozialen Marktwirtschaft" handelt, um die Positionsschrift von Guido Westerwelle "Für eine freie und faire Gesellschaft", um das sogenannte Kanzleramtspapier, die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Agenda 2010 vom 14. März 2003, um seine Regierungserklärung zum Einjahresjubiläum oder um die Rede des Vorstandschefs der Deutschen Bank Josef Ackermann beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt vom 16. Januar 2003. Wer diese Texte aufmerksam liest, findet darin vornehmlich aneinandergereihte Signale und Behauptungen ohne logische Verknüpfungen.
Und selbst da, wo der Eindruck entsteht, als handle es sich um die Beschreibung von Wirkungszusammenhängen, scheint das nur so. Das beste Beispiel dafür ist der Kern der Argumentation:

Wichtig sind "Reformen" – so wird gesagt –, "damit die Lohnnebenkosten sinken und damit die Beschäftigung endlich wieder kräftig steigt".

Ein schöner Satz – nur leider falsch.

...

Denkfehler 1: Alles ist neu

Variationen zum Thema:

  • "Es kann nicht mehr so weitergehen. Heute ist alles anders: die Globalisierung, die Demographie, die Lebens- und Erwerbsbiographien ändern sich grundlegend."
  • "Eine neue Zeit sozialer Umbrüche."
  • "Wir erleben einen tiefen Einschnitt: die alte Bundesrepublik ist tot."

Die Geschichte der alten Bundesrepublik gilt als Erfolgsstory – ökonomisch, politisch, sozial. Rückblickend werden die meisten der heute über Vierzigjährigen das Gefühl haben, daß es stetig aufwärts ging. Ungefähr mit Beginn der achtziger Jahre hat sich das geändert. Nach einer kurzen Wiedervereinigungseuphorie verfiel das Land in Depression. Alles schien auf einmal schwieriger, unübersichtlicher. Politik, Wirtschaft und Medien begannen nahezu unisono zu verkünden: "So kann es nicht weitergehen." Was dieses "so" bedeutet, wurde zwar bis heute nicht genau definiert, dafür liest man allerorten: "Wie wir alle wissen, muß sich etwas ändern", denn: "Heute ist alles anders." Globalisierung, die demographische Entwicklung, Überalterung, Flexibilisierung von Arbeit und Leben werden als neue Phänomene ausgegeben, die nach ebenso neuen Lösungen verlangen. Es gebe – anders als früher – nichts mehr zu verteilen, heißt es. Begriffe wie Wissensgesellschaft, Informationsgesellschaft oder Dienstleistungsgesellschaft suggerieren einen Strukturwandel, dem der einzelne und unsere Gesellschaft sich anpassen müssen, um nicht auf der Strecke zu bleiben.
Es ist verständlich, daß junge Menschen, die mit einer stagnierenden Wirtschaft und steigenden Arbeitslosenzahlen aufgewachsen sind, dazu neigen, die wirtschaftliche Lage nicht als Folge einer falschen Politik, sondern als Begleitumstände einer neuen Zeit zu werten. Zumal in der Medienrepublik Deutschland eine wirklich kontroverse und konstruktive Diskussion über die Probleme des Landes nicht geführt wird. Statt sich der wichtigen, wenn auch schwierigen Aufgabe zu widmen, die Verhältnisse zu analysieren, werden Schlagworte weitergegeben, die eher zur Verunsicherung als zur Klärung beitragen. Menschen, die diese schablonenartige Zurichtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mitmachen, schaffen kaum mehr den Sprung in die Talkshows. In den Fernsehstudios sitzen dann Runden mit Rogowski-Hundt-Henkel-Clement-Steinbrück-Westerwelle-Merkel-Bütikofer-Eichel-Miegel-Baring und – alle sind sich einig.

... radikal veränderte ökonomische Bedingungen in Deutschland, in Europa und in der Welt. – Gerhard Schröder (SPD), 11.02.2004

Wir leben in einer anderen Zeit als die Gründerväter unseres Landes. ... Ein Leben in unserer Zeit ist ein Leben in den zweiten Gründerjahren unserer Republik, und die zweiten Gründerjahre sind nicht die ersten. – Angela Merkel (CDU), 01.10.2003

Es geht darum, den Sozialstaat auf die radikal veränderten Bedingungen einzustellen. – Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/ Grüne), 14.03.2003

Tatsächlich befindet sich die Welt in einem tiefen Umbruch. – Das sind neue Gründerjahre (...) – Horst Köhler, Dankesrede nach der Wahl zum Bundespräsidenten, 23.05.2004

Die Verantwortlichen selbst brauchen den Glauben an das Neue als rhetorischen Schutz, um die eigene Position als einzig zeitgemäßen Standpunkt auszuzeichnen, als die alternativlose Antwort auf die neue Welt. Wer traut sich schon, einem Politiker in den Arm zu fallen, der das Staatsschiff durch die Gefahren neuer Herausforderungen steuert? Hat man dem Gegner erst einmal das Stigma des störrischen Traditionalisten aufgedrückt, kann man sich die mühsame und unwägbare argumentative Auseinandersetzung sparen. Wer von gestern ist, wird nicht besprochen, sondern überholt. Die Neuen und das Neue immunisieren sich gegen Kritik und nutzen diesen Schutz: Es vergeht keine große Rede, in der nicht die neue Weltlage beschworen wird, es erscheint kein Essay wichtiger Personen, in der davon nicht die Rede ist.
Die Globalisierung ist neu. Das demographische Problem ist neu. Die Erwerbsbiographien sind neu. Die wirtschaftlichen Herausforderungen sind neu. Und die Bedingungen, Arbeitsplätze zu schaffen, sind neu. Die Mitte ist neu, Labour ist neu. Alles ist neu. Aber stimmt das?

Veränderungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Es hat sogar große Veränderungen gegeben, ohne daß man annahm, dies sei eine neue Zeit. Als Beispiel wäre die Entdeckung der Notwendigkeit zu nennen, etwas für den Schutz unserer Umwelt zu tun. Oder die Ablösung der Politik der Stärke durch die Versöhnungspolitik der sechziger und siebziger Jahre. Die Entdeckung der Pille war um vieles weitreichender als alles, was heute als besonders neu beschrieben und wie eine Monstranz durch die Gegend getragen wird. Das waren wirkliche Brüche, ohne daß man deshalb meinte, das System und die Regeln unseres Zusammenlebens verändern zu müssen.
Kaum einer stellt die Frage, ob die heutigen Veränderungen wirklich eine Größenordnung haben, bei der man davon sprechen kann und muß, hier schlage eine neue Quantität in eine neue Qualität um.

Die Globalisierung ist ein alter Hut

Die Globalisierung ist ganz und gar nicht neu; schon gar nicht gibt es einen qualitativen Sprung, der nicht zu bewältigen wäre. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war der Güter- und Kapitalaustausch etwa auf dem Niveau von 1970. Seitdem sind Ex- und Importe weiter stark gestiegen, aber 70,4% unserer Exporte gingen 2002 zu unseren Nachbarn in Europa, und 68,7% der Importe kamen von dort. Europa entwickelt sich zu einem großen Binnenmarkt. Es macht wenig Sinn, diese Handelsströme innerhalb Europas als Zeichen einer Globalisierung zu werten. Schon gar nicht taucht etwas Neues und Bedrohliches auf. Kapital- und Währungsspekulationen gab es schon immer. Im Kaiserreich gab es große Wanderungsbewegungen von Menschen auf der Suche nach Arbeit, Hunderttausende Polen wurden im Ruhrgebiet integriert. Namen wie Tschibulski oder Przbilsky zeugen heute noch davon. Und in den sechziger und siebziger Jahren kamen Millionen Gastarbeiter nach Deutschland.

Schon vor 1990 machte unsere Wirtschaft Strukturveränderungen durch, die von der internationalen Verflechtung und dem Welthandel ausgelöst wurden. Ganze Branchen brachen weg oder wurden bis zur Bedeutungslosigkeit dezimiert (siehe dazu ausführlich Denkfehler Nr. 2 und Denkfehler Nr. 12).

Die Deutschen sterben schon seit vierzig Jahren aus

Auch das demographische Problem und die sogenannte Alterung sind nicht neu; diese Änderungen führen schon gar nicht dazu, daß der Generationenvertrag nicht mehr trägt, wie allgemein behauptet wird.

Das Unvorhergesehene geschah im Jahr 1966. Es passierte still und leise, beziehungsweise eigentlich ist das Kennzeichen dieses verhängnisvollen Ereignisses, daß fast gar nichts passierte. Sendepause in den Betten. Still und heimlich haben die Deutschen damals das Kinderkriegen gedrosselt. Keiner hat es gemerkt. Die Windel- und Kinderwagenhersteller hätten als erste stutzig werden müssen, aber auch als die Kindergärten leer blieben und die Schulen schlossen, schlug niemand Alarm. Erst die Recherchen unermüdlicher Reporter brachten plötzlich die Wahrheit ans Licht: Wir haben kaum noch Kinder und werden immer älter. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands. Und das ist schlimm und neu.

Wenn es wirklich so ist, dann ist die demographische Katastrophe der wohl langsamste Umsturz der Welt, schleichend wie das Leben, das irgendwann in der Katastrophe endet. Diese vermeintliche Zeitbombe tickt seit dem Pillenknick, immer wieder stoßen die Medien schrille Alarmrufe aus, aber explodiert ist die Bombe noch nie: Die Klagen über sinkende Schülerzahlen halten sich ebenso in Grenzen wie die Arbeitsplätze, die wegen Menschenmangels unbesetzt bleiben. Mit der demographischen Katastrophe ist es wie im normalen Leben: Wenn man nicht in den Spiegel gucken würde, würden wir nichts davon mitbekommen. Aber irgendwann wird’s schlimm, da sind sich alle ganz sicher. Und wenn man den deutschen Top-Eliten glauben darf, muß jetzt schleunigst alles anders werden.

"Die Bismarckschen Sozialgesetze funktionieren so lange, wie die Wirtschaft und die Bevölkerung wachsen. Angesichts einer alternden Bevölkerung muß allen klar sein, daß diese Gesetze nicht mehr funktionieren können." Diesen Satz hätten viele Sozialwissenschaftler und Publizisten, Politiker und Feuilletonisten sagen können. In diesem Fall stammt er vom Ex-Bundesbankpräsidenten Ernst Welteke. Aber auch wenn er mit dem üblichen Füllsel – "muß allen klar sein" – die Selbstverständlichkeit seiner Aussage beschwört, ist sie noch lange nicht selbstverständlich und schon gar nicht richtig. Weder die Tatsache, daß wir Deutschen weniger werden, noch die Tatsache, daß der Altersdurchschnitt steigt, ist ein grundlegend neues Phänomen. Seit Jahren sinkt in allen Industriestaaten die Geburtenrate. Das hat uns aber nicht an wirtschaftlichem Wachstum gehindert.

Und dramatisch sind diese Entwicklungen schon gar nicht (vergleiche die Denkfehler Nr. 5, 6 und 7, S. 104, 115 und 126). Wenn wir nicht mit großer Lautstärke darauf aufmerksam gemacht würden, dann würde es uns überhaupt nicht auffallen, daß wir "älter" werden, präziser: daß der Altersdurchschnitt unseres Volkes steigt. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit spüren wir das sogenannte demographische Problem allenfalls als Entlastung des Arbeitsmarkts.

Die dramatisierte Veränderung der Relation von arbeitender Bevölkerung zur Rentner- und Kindergeneration verliert ihre Schrecken erstens dann, wenn man die Zeitdimension einrechnet, wenn man also beachtet, daß diese Veränderungen in Jahrzehnten stattfinden. In der Vergangenheit hat es weitaus plötzlichere und brutalere Einschnitte gegeben, zum Beispiel die Auslöschung von Millionen vor allem junger Menschen in den beiden Weltkriegen. Nach der Logik der Reformhysteriker hätte dies zu einer unerhörten Belastung der verbliebenen Arbeitsbevölkerung führen müssen. Selbst diesen Einschnitt hat die Nachkriegsgeneration wirtschaftlich aber offenbar blendend verkraftet.

Daß es heute gelingt, mit der langfristigen demographischen Entwicklung Panik zu verbreiten, liegt an dem "zeitraffenden" Denken. Es suggeriert, daß die Veränderung in der Relation von arbeitender zur Rentnergeneration bereits morgen eintritt. Die vorgezogene Ruhestandspanik gleicht der eines jungen Menschen, den schon heute die Frage verrückt macht, wie er in vierzig Jahren mit der vielen freien Zeit als Rentner zurechtkommen soll. Auf Fragen dieser Zeitperspektive kann es heute keine vernünftigen Antworten geben; es sei denn, man erachtet es für vernünftig, wenn sich Zwanzigjährige mit gezielten Auszeiten in Ausbildung und Beruf auf den Ruhestand vorbereiten.
Die Entwicklung verliert ihre Schrecken zweitens, wenn wir beachten, welche Produktionspotentiale wir haben und welche Produktivitätsentwicklung realistisch ist. Nur 1,5% Zuwachs an Arbeitsproduktivität pro Jahr würden ausreichen, um auf Jahrzehnte hinaus Rentner, arbeitende Bevölkerung und Kindergeneration besser- oder zumindest auf jeden Fall gleichzustellen. Der Kampf zwischen den Generationen kann ausfallen. Das Gerede um das Ende des Generationenvertrags hat keine rationale Basis. Es ist reine Stimmungsmache. So benutzt ja auch der Ex-Bundesbankpräsident statt einer rationalen Begründung ein Sprachsignal: "Bismarcksch" – der Gebrauch dieses Begriffs reicht in der heutigen Debatte schon aus, um ein bestimmtes Verfahren der Altersversorgung, das Umlageverfahren, zu diskreditieren (Näheres dazu unter Denkfehler Nr. 5, 6 und 7, 5. 104,115 und 126).

Ein Trend, der keiner ist

Weder sind Patchwork-Biographien dramatisch neu noch ist die Erosion der sogenannten Normalarbeitsverhältnisse zwangsläufig. "Morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben ... wie ich gerade Lust habe", so dachte sich Karl Marx das Leben in einer idealen Gesellschaft. Pustekuchen: Ihr werdet morgens Zeitung austragen, mittags Grafik designen und abends kellnern! Aus der Marxschen Verheißung der umfassenden menschlichen Entfaltung ist inzwischen eine neoliberale Drohung geworden: Ihr werdet in eurem Leben mehrere Berufe ausüben. Hintereinander und womöglich auch gleichzeitig. Und ohne Beschäftigungsgarantie. Willkommen im Land der Patchwork-Biographien. Hier ist die Festanstellung eine aussterbende Existenzform wie die des Küfers oder Korbflechters.

Die dauerhafte Ungebundenheit ist dagegen das Kennzeichen neuer, flexibler und leistungsfähiger Arbeitnehmer. Aber ist das eine zutreffende Beschreibung der Realität – und ist das unser Ziel?

Das Industriezeitalter mit seinen Regelungen und Traditionen geht zu Ende. Wir bekommen zunehmend sehr unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse, die nicht mehr unserem traditionellen Verständnis entsprechen. – Wolfgang Clement im Spiegel, Nr. 16/2003

Deutschland steht am Scheideweg. – Gemeinsamer Beschluß der Präsidien von CDU und CSU, 04.05.2003

Wenn interessierte Kreise uns nahebringen wollen, daß wir die Systeme unserer sozialen Sicherung grundlegend verändern müssen, greifen sie gerne auf die Behauptung zurück, die Erwerbsbiographien hätten sich völlig verändert, die Menschen würden wechseln zwischen abhängiger Arbeit und einer selbständigen Existenz, die Arbeitsverhältnisse würden zunehmend nur noch befristet gewährt, das sogenannte Normalarbeitsverhältnis werde nicht mehr der Normalfall sein – und damit würden auch die beitragsfinanzierten Sicherungssysteme ihre Funktion verlieren.

Doch schon die Beschreibung der bisherigen Wirklichkeit stimmt nicht. Die absolute Zahl an Normalarbeitsverhältnissen ist erstaunlich stabil geblieben; ihr Anteil ist deshalb gesunken, weil die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze zugenommen hat. Natürlich nehmen die meisten Menschen lieber eine Teilzeitarbeit an, statt gar keine Anstellung zu haben. Vielen Frauen, die keine ausreichende Kinderbetreuung haben, bleibt auch nichts anderes übrig, als sich damit zu begnügen. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse wird auch unter den Druck der neuen Minijobregelung und -förderung geraten.

Aber dies sind keine Trends, schon gar nicht handelt es sich um eine von der Mehrheit gewünschte Entwicklung. Selbst wenn man davon ausginge, daß diese Entwicklung unabänderlich wäre, müßte man gerade deswegen die soziale Sicherheit ausbauen, statt sie abzubauen, wie es gerade geschieht. Das Normalarbeitsverhältnis, der unbefristete Arbeitsvertrag, wird auch von jungen Leuten angestrebt, auch in aufstrebenden Branchen wie der Informations- und Kommunikationstechnik. Dieses Streben nach Sicherheit ist ihnen nicht zu verdenken. Wenn die Arbeitsmarktlage günstig ist, können sie ihren Wunsch nach gesicherten Arbeitsverhältnissen realisieren. Kluge Unternehmer wissen das und bieten die Sicherheit an, die nötig ist, um kreative, ausgeruhte Kräfte einsetzen zu können, deren Kopf frei ist von den Sorgen um die ständige Unsicherheit des Arbeitsplatzes und den nächsten Auftrag (siehe dazu Denkfehler Nr. 27).

Die schlechte Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage – und nicht irgendeine neue Zeit – ist der eigentliche Hintergrund für die wachsende Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse. Ein Blick auf die neuen Bundesländer verdeutlicht das. Die dort besonders veränderten Erwerbsbiographien haben zuallerletzt mit einer "neuen Zeit" zu tun (es sei denn, man meint damit die deutsche Vereinigung). Zuallererst sind sie die Folge einer miserablen wirtschaftlichen Lage, die die Marktmacht der Arbeitskraftanbieter schwach und die Marktmacht der unternehmerischen Nachfrager nach Arbeitskraft groß hat werden lassen. Dieses Ungleichgewicht, das wir in abgeschwächter Form in vielen Teilen Deutschlands nun seit über zwanzig Jahren kennen, hat mehr mit einer aus Dummheit oder bewußt schlecht gemachten Wirtschafts- und Konjunkturpolitik zu tun als mit einem großen Trend der Moderne. Wirklich neu ist, daß wir über eine so lange Periode hinweg die Kapazitäten unserer Wirtschaft und unserer Arbeitskräfte nicht nutzen. Das ist um vieles neuer als all die vielzitierten Demographie-, Globalisierungs- oder Patchwork-Neuheiten. Sie dienen lediglich als Ausreden für die Unfähigkeit und als Vorwand für die Unwilligkeit, das Richtige zu tun. Vor allem dienen sie als Hebel zur Systemveränderung.

Jede rationale Debatte hat es schwer, weil die Behauptung "Alles ist neu" dem Geist der Zeit entspricht. Wir leben in einer von Medien, vor allem vom Fernsehen geprägten Gesellschaft. Das Neue ist eine Nachricht wert, das Alte nicht. Hinzu kommt, daß sich Medien in erstaunlicher Weise an anderen Medien orientieren. Dieses Phänomen begleitet uns in nahezu allen Bereichen der Meinungsbildung. Es wird etwas Neues in die Welt gesetzt, ein neuer Gedanke, eine neue Analyse, ein neues Programm, und erstaunlich viele orientieren sich an dem Gesagten, ohne den Realitätsgehalt zu prüfen. Die vielfältige Wiederholung dieser Botschaften bringt die notwendige Verstärkung, um sie zur Pseudogewißheit werden zu lassen. Die Talkshows helfen dabei kräftig mit; sie brauchen das Neue, und sie wiederholen die Themen und Thesen so lange, bis sich alle in dieser neuen Themenwelt heimisch und geborgen fühlen.

Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit. George Orwell, 1984

Psychologisch hat dieses Verhalten viel damit zu tun, daß sich die jetzt handelnde Generation von der politischen Elterngeneration absetzen will. Die heute bestimmende Generation will ein eigenes Arbeitsfeld besetzen und damit ein eigenes Profil gewinnen; zugleich bietet die Darstellung der jetzigen Lage als besondere Herausforderung die Chance, den mangelnden Erfolg in der Politik als Folge dieser neuartigen Herausforderung darzustellen.

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