Auszüge aus Albrecht Müller's
"Machtwahn"

Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet

Man kann einige Menschen die ganze Zeit zum Narren halten
und alle Menschen einige Zeit,
aber man kann nicht alle Menschen die ganze Zeit zum Narren halten.
Abraham Lincoln

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Einführung

Manchmal frag in all dem Glück,
ich im lichten Augenblick:
bist verrückt du etwa selber,
 oder sind die andern Kälber?
Albert Einstein

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt. Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie dagewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zuwenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten.

So begann der Bundespräsident am 21. Juli 2005 seine Erklärung zur Auflösung des Deutschen Bundestags. Zwei Wochen später meldete das Statistische Bundesamt einen neuen Rekord beim Exportüberschuß. Offenkundig ist die deutsche Wirtschaft außerordentlich wettbewerbsfähig. Unser Welthandelsanteil liegt über dem der USA. Das gehört mit ins Bild, wenn man die Lage unseres Landes schildert.

Wie kommt der Bundespräsident dazu, die Lage unseres Landes so einseitig und übertrieben schwarz zu malen?

Es gibt leider eine einfache Antwort auf diese Frage: Horst Köhler mußte die Situation in dieser Weise dramatisieren, um die Auflösung des Deutschen Bundestags als dringlich erscheinen zu lassen. So lautet sein nächster Satz denn auch:

In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann.

"In dieser ernsten Situation" – es sind beschwörende Worte, mit denen der Bundespräsident dem Bundeskanzler beispringt, und das bei einem Akt, den man nur als Konkursverschleppung bezeichnen kann. Bevor nämlich Bundeskanzler Schröder am 22. Mai, am Abend der von ihm und seiner Partei verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, für Neuwahlen eintrat und das dafür notwendige Prozedere einleitete, hatten sich die Stimmen derer gemehrt, die der Auffassung waren, daß die Reformpolitik nichts gebracht habe und die dahintersteckende Ideologie schlicht und einfach gescheitert sei.

Selbst Medien wie der Spiegel, die Zeit und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die in den vergangenen Jahren sehr engagiert für die Reform-Agenda eingetreten sind, zogen bittere Bilanzen der bisherigen Reformarbeit. Typisch dafür ist der Spiegel-Titel vom 23. Mai 2005: "Die total verrückte Reform" hieß es dort über die Hartz-Gesetze.

Viele Reformen waren angezettelt worden, keine hatte die versprochene Wirkung gebracht. Eigentlich hätte die neoliberale Bewegung, die vehementesten Reformbefürworter, Konkurs anmelden müssen. Doch Gerhard Schröders Neuwahlbegehren war für sie wie ein Befreiungsschlag. Er verdrängte die Bilanzen des Scheiterns aus den Schlagzeilen. Ab diesem Zeitpunkt wurde fast nur noch über die Fortsetzung der Reformen und deren Bestätigung durch die vorgezogene Bundestagswahl am 18. September 2005 gesprochen. Bundespräsident Köhler meinte, in dieser Situation Gerhard Schröder unterstützen zu müssen – unabhängig davon, ob die beabsichtigte Auflösung des Bundestages dem Geist des Grundgesetzes entsprach oder nicht.

Unser Land befindet sich in einer wirtschaftlichen Stagnation. Von kleinen Zwischenperioden abgesehen, geht es seit fünfundzwanzig Jahren ökonomisch nicht mehr voran. Wir fallen hinter andere Länder zurück. Politische Entscheidungen halten nicht, was mit ihnen versprochen worden ist. Pannen, Fehlentscheidungen und Mißerfolge häufen sich. Die depressive Grundstimmung überträgt sich auf das politische Bewußtsein der Menschen. Sie wenden sich ab von der Politik. Sie fühlen sich ohnmächtig und sind unzufrieden.

Woran liegt das? Warum sind wir so erfolglos beim Kampf gegen Stagnation und Arbeitslosigkeit? Die gängigen Antworten lauten: Reformstau, Blockade, übertriebener Sozialstaat, zu mächtige Gewerkschaften und so weiter.

Das sind Antworten, die meist jenseits der Realität angesiedelt sind. Ich habe den Verdacht, daß unsere Misere eine ganz andere Ursache hat. Liegt es vielleicht daran, daß wir besonders schlechte Eliten haben, daß sich bei uns das Mittelmaß durchgesetzt hat, sich gegenseitig stützt und zur Erhaltung der gewonnenen Macht auf den Gleichklang der Analysen und Therapien drängt?

Der Fisch stinkt vom Kopf her. Diese Volksweisheit könnte auf unser Land zutreffen und viele Entscheidungen und Fehlentwicklungen sehr viel besser erklären als die gängigen Erklärungsmuster.

Seit fünfundzwanzig Jahren schon wird in Deutschland nach den Rezepten der Angebotsökonomie, also nach neoliberalen Rezepten regiert. Es wurden die Steuern gesenkt und reformiert, es wurden soziale Leistungen abgebaut, es wurde privatisiert und dereguliert. Immer hieß es, es gebe keine Alternative zu dieser Politik. Doch all diese Reformen haben nur bewirkt, daß die Arbeitslosigkeit weiter stieg, das Wachstum unserer Volkswirtschaft weiterhin stagnierte, die Schulden ebenso wie die Finanzprobleme der sozialen Sicherungssysteme weiter wuchsen. Was sie nicht bewirkt haben, ist eine positive konjunkturelle Entwicklung – doch gerade das wäre eine wesentliche Voraussetzung für die Lösung all dieser Probleme.

Unsere Meinungsführer, unsere Eliten scheinen diese Realität und Erfahrung nicht wahrnehmen zu wollen. Statt dessen bestätigen sie sich gegenseitig in ihren schlechten Analysen und falschen Therapien. Nicht zuletzt aufgrund dieser gegenseitigen Bestätigung sind Eliten – so versuche ich zu belegen – heute leichter zu manipulieren als das Volk. Es hat den Anschein, daß sie sich von der neoliberalen Ideologie leichter beeindrucken lassen.

Wer sind diese Eliten? Ich verstehe darunter jene, die in unserem Land die öffentliche Meinung und die Entscheidungen bestimmen. Und unterhalb dieser Ebene gehören noch jene hinzu, die sich als Multiplikatoren, als Meinungsführer und als Funktionäre in politischen Körperschaften empfinden. Sie, die Leser, werden im jeweiligen Kontext sofort erkennen, was jeweils gemeint ist.

In der Diskussion um dieses Buchprojekt wandten einige meiner Freunde ein, es grenze an Arroganz, das Wort "mittelmäßig" zur Kennzeichnung unserer Eliten zu verwenden. Dieser Einwand hat mir zu schaffen gemacht. Aber dann, während der Bildung der neuen Koalition und der Regierung, trat ein offensichtlicher Mangel an kreativen Ideen und Projekten zur Überwindung der Wirtschaftskrise zu Tage – statt dessen orientierte man sich am gängigen Meinungsstrom, wie fremdbestimmt, ohne bemerkenswerte eigene Gedanken. Da ließ ich meine Bedenken fallen. Nicht jeder kann die Führungsschicht wie ein rohes Ei behandeln oder sie aus der Warte eines Psychoanalytikers betrachten. Unsere Eliten sind schnell beleidigt, wenn man die Qualität ihres Intellekts anzweifelt, sie mögen es überhaupt nicht, wenn man ihnen nachweist, daß sich ihr Denken in den immer gleichen Schablonen vollzieht, oder ihnen zeigt, daß sie gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge nicht durchschauen.
Unter unseren Eliten finden sich hochbegabte und bewundernswert engagierte Menschen. Aber sie geben nicht den Ton an. Unter den wirklich Einflußreichen muß man sie mit der Lupe suchen. Die große Mehrheit ist unteres Mittelmaß und rücksichtslos zerstörerisch. Das bekommen wir zu spüren. Mit ihren Reformen zerschlagen sie gewachsene Strukturen, ohne zu wissen, wo genau es hingehen soll. Bewegung ist alles, und so wird alles zur Disposition gestellt:

  • der Sozialstaat,
  • unsere Moral,
  • unsere Werte,
  • die Lebensperspektiven der Menschen,
  • ihre Planungssicherheit,
  • ihre Arbeitsplatzsicherheit,
  • unsere Infrastruktur,
  • der soziale Zusammenhalt,
  • der Geist der Aufklärung und Toleranz,
  • die Demokratie,
  • wichtige politische Bewegungen wie die SPD oder die Gewerkschaftsbewegung,
  • auch die ohnedies schon nicht sonderlich demokratische Struktur der Medien wird weiter ramponiert,
  • desgleichen unser Grundgesetz.

Auch eine moderne Gesellschaft kommt nicht ohne ein Stück Solidarität aus, doch die neoliberalen Reformen stützen sich auf eine egoistische Philosophie. "Jeder ist seines Glückes Schmied" – das ist das Credo ihrer Verfechter. In Maßen kann man diese Theorie durchaus vertreten. Aber wenn man sie zur alles gestaltenden Wegweisung und Ideologie erhebt, dann zerstört man den Zusammenhalt einer Gesellschaft.

So sind unsere Eliten wie die Totengräber wichtiger Errungenschaften unseres Volkes. Sie räumen alles ab. Rücksichtslos. Und sie arbeiten auf eigene Rechnung.
Zwar hat der Befreiungsschlag Gerhard Schröders ihm persönlich scheinbar nichts gebracht. Er ist nicht wieder Bundeskanzler geworden. Möglicherweise kam es ihm aber darauf auch um vieles weniger an als auf die Fortsetzung der sogenannten Reformpolitik. Das hat er für vier weitere Jahre erreicht. Er selbst wird nicht darben. Doch wir alle werden darben, wenn wir uns nicht wehren. Das verlangt zunächst einmal, die Wahrheit zu sagen über die Gründe unserer Krise.

Es geht um heikle Fragen: Was sind die wahren Motive unsere Eliten? Was steckt dahinter, wenn offensichtlich unvernünftige Entscheidungen getroffen werden, die weitreichende schädliche Folgen für uns alle haben – Entscheidungen allerdings, die zweifelsfrei mächtige Interessen bedienen?

Ein Ziel dieses Buches ist es, die Interessengeflechte zu beschreiben, in denen unsere Eliten stehen und die aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Entscheidungen beeinflussen. Außerdem möchte ich an Vorgängen der Gegenwart und Vergangenheit zeigen, wie es um die Qualität unseres Führungspersonals bestellt ist und welche Folgen die Mittelmäßigkeit der Eliten für die politischen Entscheidungen und damit für uns alle hat. Die damit verbundenen Fragen sind aktueller denn je: Zwar erweist sich die neoliberal geprägte Reformpolitik als ungenügend und in ihrer Wirkung verheerend. Dennoch wird in vielen europäischen Staaten versucht, sie mit brachialer Gewalt durchzusetzen. Es ist an der Zeit, daß wir unseren Eliten in den Arm fallen.

Gewinner und Verlierer

Deutschland hat gute Potentiale. Man erkennt das an so herausragenden Leistungsbeweisen wie dem Exportüberschuß von weit über 100 Milliarden Euro in den Jahren 2004 und 2005 oder an der Tatsache, daß unser Land mit ungefähr 10% bei Exporten von Waren insgesamt und 20% beim Maschinenbau-Export den größten Welthandelsanteil erreicht. Die Infrastruktur ist (noch) gut; die Lage des Landes in der Mitte Europas nach der Ostöffnung optimal, die Ausbildung der Mehrheit der Menschen ist beachtlich, ihre Bereitschaft, sich einzusetzen, ist vergleichsweise hoch, die Standortvorteile einer Produktion in unserem Lande sind groß. Und dennoch sind wir nicht zufrieden und können auch nicht zufrieden sein, weil unsere Potentiale nicht genutzt werden, weil die Beschäftigten, weil unsere Kapazitäten an industrieller Ausrüstung und Personalausstattung nicht ausgelastet sind.

Für manche hat sich diese wenig erfreuliche Beschäftigungssituation gelohnt: für die Exportwirtschaft, die mit sinkenden Kosten hierzulande und steigenden Preisen außerhalb sehr gute Gewinne verbuchte, für die Arbeitgeber der Großindustrie, auch die Finanzindustrie und die Versicherungswirtschaft sind ganz gut bedient worden. Die großen Konzerne machen ordentlich Gewinne, zum Teil unglaublich hohe Gewinne. Viele Aktionäre können hoch zufrieden sein, und die Manager sowieso: Ihre Gehälter und sonstigen Einkünfte sind geradezu explodiert. Ansonsten gibt es wenige Gewinner.

Hohe und steigende Arbeitslosigkeit

Über 5 Millionen registrierte Arbeitslose gab es im Januar 2005 und wiederum über 5 Millionen im Januar 2006. Im Durchschnitt des Jahres 2005 waren es 4,8 Millionen. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von 11,6%. Wenn man noch jene Arbeitslosen dazuzählt, die nicht mehr registriert werden, kommt man auf eine Zahl von schätzungsweise über 7 Millionen Menschen.

Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wächst

Seit dem Ende der letzten kleinen wirtschaftlichen Erholung im Jahr 2000 ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen – das sind Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind – von damals 1,454 Millionen auf 1,681 Millionen im Jahr 2004 angestiegen.

Hinter solchen Zahlen steht eine große Bewegung. Jährlich wechseln etwa 8 Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit, und ungefähr die gleiche Zahl wechselt von der Arbeitslosigkeit wieder in Arbeit.

Einbruch bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen, Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse und Minijobs

Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträge um 1,7 Millionen zurückgegangen. Gleichzeitig stieg die Anzahl der sogenannten Minijobs und 1-Euro-Jobs um rund 800.000 stark an. Das ist in zweierlei Hinsicht ein bemerkenswertes, wenn auch nicht erstaunliches Ergebnis: Es ist zum einen bemerkenswert, weil die Reformer mit der Behauptung angetreten sind, sie müßten den Sozialstaat umbauen, um die sozialen Sicherungssysteme zu festigen. Da mit der Erosion der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträge das Beitragsaufkommen sinkt, wird jedoch das Gegenteil einer Festigung der sozialen Sicherungssysteme bewirkt. Sie sind in den letzten Jahren finanziell unsicherer geworden, zumal sie bereits aufgrund der Belastung mit versicherungsfremden Leistungen durch die deutsche Einheit und die Aussiedlerrenten in Not geraten waren. Zum anderen ist bemerkenswert, daß der Zuwachs an Minijobs und anderer Spielarten dieser prekären Arbeitsverhältnisse sowie der Verlust von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen von Staats wegen wesentlich mitverursacht ist. Denn die Minijobs sind in vielfacher Hinsicht subventioniert: Auf die 400-Euro-Jobs wird nur eine Pauschale von 25% erhoben; die Ich-AGs wurden mit 600 Euro monatlichem Existenzgründungszuschuß bedacht, die 1-Euro-Jobs werden vom Staat mit bis zu 500 Euro pauschal pro Monat bezahlt, nicht nur für den betroffenen Arbeitnehmer, auch für den Beschäftigungsträger, der in der Regel den größeren Teil erhält – sozusagen für die Verwaltung des 1-Euro-Jobbers. – Was hier mit viel Geld subventioniert wird, trägt also entscheidend zur Ausblutung der Sozialsysteme mit bei.

Wenn die Einkommen und die Beschäftigtenzahlen sinken, dann sinken auch die tatsächlichen Beitragszahlungen zu den Sozialversicherungen. Die kritische Finanzlage der sozialen Sicherungssysteme ist die Folge der schwachen wirtschaftlichen Lage, der schwachen Einkommensentwicklung und der beschriebenen Verschiebung auf dem Arbeitsmarkt, die zu Lasten der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse geht.

Mangelhafte Auslastung unserer Kapazitäten

Die Kapazitäten des verarbeitenden Gewerbes waren im September 2005 nur zu 82,8% ausgelastet. Unser Einzelhandel, unser Gastgewerbe, unser Baugewerbe und viele andere Gewerbe- und Berufszweige, die vornehmlich für den Binnenmarkt arbeiten, sind vermutlich noch viel schlechter genutzt. Darauf deutet die Tatsache hin, daß sehr viele Einzelhandelsgeschäfte schließen mußten und daß auch im Jahr 2005 der Umsatz der Gaststätten um 2,8% zurückging.

Hohe Zahl von Insolvenzen

Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist in den letzten Jahren immer wieder gestiegen. 2003 und 2004 hat es jeweils fast 40.000 Unternehmen getroffen. 2005 waren es fast ebensoviele. Auch die sogenannten Verbraucherinsolvenzverfahren steigen massiv: von 34.000 (2003) über 49.000 (2004) auf voraussichtlich bald 70.000 in 2005.

Sinkende Realeinkommen aus Löhnen und Gehältern

Die Löhne und Gehälter sind in den letzten dreizehn Jahren real, also nach Abzug der Preissteigerungen, nicht mehr gestiegen. Sie sind sogar gefallen, seit 1995 um 0,9%.
Die Arbeitnehmer haben also heute eine geringere Kaufkraft als im Jahr 1995. Dieser Kaufkraftverlust erklärt den Niedergang des privaten Verbrauchs und der Binnennachfrage insgesamt.

Kläglicher Anstieg des privaten Verbrauchs

Der reale private Verbrauch der privaten Haushalte (also nach Abzug der Preissteigerungen) hat von 1993 bis 2001 nur gering um 1,7% im Jahresdurchschnitt zugenommen, seit 2001 ist er sogar leicht rückläufig.

Kontinuierlicher Rückgang der öffentlichen Investitionen

Auch bei den öffentlichen Investitionen sind wir auf dem Rückzug. Seit 1993 gingen diese jedes Jahr um durchschnittlich 3,8% zurück. Die Quote der staatlichen Bau- und Ausrüstungsinvestitionen sank im betrachteten Zeitraum von 1993 bis 2004 ständig.

Deutlicher Anstieg der Unternehmens- und Vermögenseinkommen

Von 1993 bis 2000 sind die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 22% gestiegen, in den Jahren 2000 bis 2005 noch einmal besonders hoch: um 29,5%. Preisbereinigt, also nach Abzug der Preissteigerungen, sind das real immer noch ungefähr 20%.

Die Einkommens- und Vermögensverteilung driftet auseinander, die Armut wächst

Schon über 13% aller Haushalte gelten nach amtlicher Bewertung als arm. Jedes fünfte Kind, in den neuen Bundesländern sogar jedes vierte Kind, lebt in einem Haushalt, der als arm gilt. Das Jahr 2005 ist typisch für die Spreizung der Einkommensentwicklung: Das Volkseinkommen insgesamt wuchs um 26 Milliarden Euro, die Arbeitnehmerentgelte jedoch gingen um 6 Milliarden zurück; entsprechend wuchsen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 32 Milliarden Euro.

Wiederanstieg der Neuverschuldung trotz Verschleuderung des Tafelsilbers

In Deutschland sind in den letzten Jahren reihenweise staatliche Unternehmen privatisiert worden. Der Staat hat sich in weiten Teilen seines Vermögens entledigt. Dennoch stieg gleichzeitig die Schuldenlast an, und auch die Nettoneuverschuldung des Staates insgesamt wuchs wieder an, nachdem der Zuwachs an Verschuldung Ende der neunziger Jahre abgenommen hatte.

An Abbildung 8 kann man einiges Interessantes ablesen. Wenn man gewillt ist, kann man auch einige Vorurteile daran überprüfen. Man sieht zunächst einmal an den Säulen im Bereich der neunziger Jahre, daß in dieser Zeit, und damit eindeutig im Zusammenhang mit dem Vereinigungsprozeß, die Gesamtverschuldung aller öffentlichen Haushalte – also Bund, Länder und Gemeinden – jährlich enorm angestiegen ist, im Durchschnitt dieses Jahrzehnts um 72 Milliarden Euro. (Die besonders hohen Schuldenzuwächse des Jahres 1995 sind übrigens der Integration der Schulden der Treuhandanstalt in den Bundeshaushalt zu danken.)

Dann zeigen die Zahlen von 1999, 2000 und 2001, daß die etwas besseren Wachstumsraten unserer Volkswirtschaft in den Jahren 1998 bis 2000 geholfen haben, die Nettoneuverschuldung zu verringern. Das ist auch leicht zu verstehen, denn wenn die Wirtschaft wächst, fließen auch die Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge besser.
Schließlich zeigen die Zahlen im weiteren Verlauf dieser Darstellung, daß der damalige Finanzminister Hans Eichel mit seiner erklärten Absicht, zu sparen, nicht automatisch zum Sparerfolg gekommen ist: Wenn man in eine Krise hinein spart, dann bleibt der Sparerfolg aus, weil die Steuern ausbleiben und man höhere Zuschüsse für die sozialen Sicherungssysteme zahlen muß.

Die Belastung durch die deutsche Vereinigung hätte in jedem Fall, auch wenn die Politik fehlerfrei gewesen wäre, Probleme gebracht. Die Vereinigung ist obendrein sehr schlecht ausgeführt worden, auch dies ein Versagen unserer Eliten – ein Versagen aus Unwissenheit und Interessenverflechtung, wie der Verkauf der ostdeutschen Banken an westdeutsche Bankinstitute zeigt. Obwohl hier zu Lasten der Steuerzahler Milliarden in den Sand gesetzt wurden, ist der Vorgang nahezu nicht diskutiert worden. Ein Musterbeispiel dafür, daß unter der Decke bleibt, was einflußreichen Kreisen unserer Eliten nicht paßt. Dem Berliner Tagesspiegel muß man dankbar dafür sein, daß er den Vorgang dokumentiert hat:

Schulden ohne Sühne: Wie sich westdeutsche Banken auf unsere Kosten an fiktiven DDR-Krediten bereicherten

von Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Berliner Tagesspiegels (erschienen am 1. Juli 2005)

Es kommt einiges zusammen für Horst Köhler an diesem 1. Juli. [...] auf den Tag genau vor 15 Jahren vollzog sich ein waghalsiges Experiment, das Köhler als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium maßgeblich vorbereitet und durchgezogen hat: die Währungsunion. [...] Bis heute sind die Umstände der finanziellen Vereinigung nicht ganz geklärt. Es ranken sich Mythen darum, Verschwörungstheorien. Sicher ist, daß die Akteure damals der DDR-Wirtschaft den Rest gaben und die Bundesrepublik auf ungewisse Zeit hinaus mit gigantischen Schulden belasteten. Es geht um 200 Milliarden Euro. [...]

Für einen Großteil der heutigen Schulden ist damals, im Sommer 1990, der Grundstein gelegt worden. Profitiert haben vor allem westdeutsche Firmen. Heute, mit 15 Jahren Abstand, wirkt es verblüffend, wie leichtfertig die Bundesregierung über naheliegende Einwände gegen manches Vorhaben hinwegging. [...]
Eines der extremsten Kapitel der Währungsunion ist der Ausverkauf der ostdeutschen Banken. So grotesk wie hier ging es kaum anderswo zu. Die Bundesregierung schenkte, auch mit Hilfe der Volkskammer, den westdeutschen Banken Milliarden, auf Kosten der Steuerzahler. Aber warum? Waren die Akteure mit der Situation überfordert? [...]

Was damals mit den Banken geschah, ist jedenfalls eine atemberaubende Volte. Dabei ist der folgenschwere Zug, der im Westen die Kassen füllt und im Osten Betriebe reihenweise ruinierte, nicht viel mehr als ein semantischer Trick. Es wurde einfach so getan, als wäre die zentrale DDR-Planwirtschaft ein freies Handelssystem gewesen, mit vollkommener Autonomie jedes Unternehmens. Im Kern standen dabei die vermeintlichen Kredite der Ostbetriebe.

Formell wurden die Zuwendungen an die Volkseigenen Betriebe, die Wohnungswirtschaft und die Genossenschaften über die ebenfalls staatlichen Banken abgewickelt. Also – Kredite? Da kennt sich der Westbanker aus. Kredite müssen zurückgezahlt werden, Einheit hin, Sozialismus her. Daß in der DDR gar keine Kredite im marktwirtschaftlichen Sinne vergeben wurden, daß also die vermeintlichen Schulden der Unternehmen nichts anderes waren als politisch gewollte und gesteuerte Subventionen, scherte weder die Politik noch die Banken. Auch daß die einzelnen Wirtschaftseinheiten ihre Nettogewinne an den Staatshaushalt abführen mußten, irritierte hier nicht. Aber wie hätten die Betriebe da ihre angeblichen Schulden begleichen können? [...] Wie falsch diese regierungsamtliche Sicht der Planwirtschaft war, hat später nicht nur der Bundesrechnungshof festgestellt. Doch da war es längst zu spät. [...]

Der Bundesrechnungshof hat in jahrelanger Puzzlearbeit die vielen Seltsamkeiten bei der Abwicklung des DDR-Bankensystems untersucht. Der Bericht wurde als "streng vertraulich" eingestuft. Es heißt darin unter anderem: Die Treuhandanstalt, für die Köhler zuständig war, und das Bundesfinanzministerium hätten Steuergelder in Milliardenhöhe verschleudert, weil sie sich bei der Veräußerung der ehemaligen DDR-Banken an westdeutsche Kreditunternehmen von diesen hätten übervorteilen lassen. Bei Geschäftsbesorgungsverträgen mit der Deutschen Bank und der Dresdner Bank sei es zu Unregelmäßigkeiten gekommen, bei den Verkaufsverhandlungen der von den Banken gegründeten Joint-Venture-Unternehmen seien sogar "erpresserische Methoden" angewandt worden.

Banker wäre damals bestimmt so mancher gerne gewesen, leichter konnte man Geschäfte kaum machen. Die Berliner Bank zum Beispiel kaufte die aus der DDR-Staatsbank hervorgegangene Berliner Stadtbank für 49 Millionen Mark. Sie erwarb damit zugleich durch den Staat garantierte Altschuldenforderungen in Höhe von 11,5 Milliarden Mark – das 235fache des Kaufpreises. Die Genossenschaftsbank West kaufte die Genossenschaftsbank Ost für 120 Millionen Mark und erwarb Altschuldenforderungen von 15,5 Milliarden Mark. Die Westdeutsche Landesbank Girozentrale zahlte für die Deutsche Außenhandelsbank 430 Millionen Mark, also eine knappe halbe Milliarde, und bekam dafür Altschuldenforderungen über sieben Milliarden Mark. Und so weiter. Die westdeutschen Banken mußten zwar auch Verbindlichkeiten übernehmen. Aber allein die Zinsen auf die übernommenen Altschulden reichten, um den Kaufpreis auszugleichen.

Daß die DDR-Zuweisungen in marktwirtschaftliche Schulden umgewandelt wurden, hat nicht nur die westdeutschen Banken zu Einheitsgewinnern gemacht, sondern auch große Teile der ostdeutschen Wirtschaft in Abhängigkeit gebracht, mindestens das. Für viele betroffene Unternehmen, die sich plötzlich mit astronomischen Rückzahlungsforderungen und rasant steigenden Zinsbelastungen konfrontiert sahen, bedeutete es den Ruin. Sie verfügten wegen der Zwangsabführung ihrer Gewinne über keinerlei Rücklagen, wurden von der Treuhand als nicht sanierungsfähig eingestuft und abgewickelt. [...]

Der vollständige Wortlaut des hier nur auszugsweise wiedergegebenen Artikels ist im Spielge-Archiv zu finden.

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