2. Dezember 2004
Bewußtsein für alle
Auf dem Weg ins Elend?

Kurze Abhandlung zur aktuellen deutschen Misere und zu ähnlichen Miseren in ähnlich strukturierten Staaten dieses Planeten.

Vor längerer Zeit, als ich noch im Usnet-SCI-Forum fleißig zugange war, schrieb einmal ein Idealist ungefähr folgenden Wortlaut: Das Ziel eines jeden Menschen bestehe in einem gelingenden Leben. Damals war ich selbst noch zu unbedarft und ungebildet, um die tiefe Weisheit dieser Worte zu verstehen, und ich schrieb ihm zurück, daß das doch viel zu einfach wäre. Heute weiß ich jedoch, daß wir in den modernen Industriestaaten den Mitteln, die wir vorgeblich zu genau diesem Zweck erfanden, inzwischen eine weit höhere Priorität einräumen als den Zielen, die wir damit eigentlich erreichen wollen. Wollen wir dieses Ziel noch immer erreichen? Oder haben wir inzwischen resigniert im globalen Spiel Jeder-gegen-Jeden-es-kann-nur-einen-geben?

Dadurch, das die Welt, die wir uns mit unseren Indrustrienationen geschaffen haben, zunehmend komplizierter wird, sind rein automatische Entscheidungshilfen, wie sie die verinnerlichten Werte und Moralvorstellungen darstellen, nicht mehr ausreichend, um sich erfolgreich in dieser Welt zu orientieren. So ist es kein Wunder, daß sich viele Menschen aufgeben und es dann vorziehen, sich ausschließlich ihrem persönlichen Wohlbefinden zu widmen. Nun wissen aber die meisten Menschen recht wenig darüber, wie das menschliche Wesen beschaffen ist, sie wissen nichts über das unermeßliche Suchtpotential kurzlebiger Vergnügungen, sie haben keinen Plan für ihre persönliche Reifung und Vollendung. Hier eine letztendliche Ursache ausmachen zu wollen gleicht im Grunde der Suche nach einem Schuldigen. Doch mir schwant immer deutlicher, daß es sich hier um eine Problematik handelt, die dem von uns bevorzugten System des Zusammenlebens grundsätzlich innewohnt.

Die folgende Aufstellung stellt weder eine Lösung noch eine Anklage dar, sondern ist lediglich eine grobe Umschreibung:

Diese Reihe könnte noch sehr lange fortgesetzt werden, doch will ich auf etwas anderes hinaus: Im Grunde hängt alles mit allem zusammen, so daß Fortschritt oder Untergang nicht durch einzelne isolierte Veränderungen an dieser oder jener Schraube des Systems entschieden wird, sondern vom Bewußtsein aller beteiligten Menschen abhängen. Es gilt somit, ein Bewußtsein von diesen Zusammenhängen bei allen zu erreichen. Es gilt weiterhin, daß jene, die allzu satt in ihren Sesseln sitzen, die (noch) allzu genüßlich vom bestehenden System (vermeintlich) profitieren, schwerer von notwendigen Änderungen zu überzeugen sind als jene, die am System leiden (grob gesagt). Das ist keine leere Behauptung von mir, sondern leidvolle empirische Erfahrung! Ein weiterer Aspekt, den es zu beachten gilt, besteht in der Tatsache, daß die Moralität und das ethische Empfinden mit dem Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie stetig abnimmt. Menschen in den oberen Rängen fühlen sich weit weniger verpflichtet, sich an die Regeln zu halten, als Menschen an der Gesellschaftsbasis. Und das meine ich nicht im Zusammenhang mit Zwang zur Arbeit und Pflicht, der weiter oben zunehmend wegfällt (dort oben herrschen andere Zwänge), sondern aufgrund innerer Überzeugung. Würden nur annähernd so viele Menschen aus den unteren Rängen in derartigem Umfang kriminelle Energien (z.B. Korruption) entwickeln wie die Leute aus den obersten Reihen, wäre schon längst das absolute Chaos ausgebrochen.

In seinem Werk "Status und Scham" weist Sighard Neckel ebenso wie Hilge Landweer in ihrem Buch "Scham und Macht" nach, wie "Normen über die Scham im Individuum leiblich verankert" sind (Landweer). Die Wichtigkeit und Bedeutung, die sich in der Hierarchie Höherstehende selbst zuschreiben, erlaubt ihnen auch, weniger Scham bei den gleichen Regelübertretungen zu empfinden als Tieferstehende. Schamlosigkeit, die keine Konsequenzen nach sich zieht, führt zum Entlernen von Schamreaktionen, so daß der Ausbeuter zu immer rigoroseren Mitteln zum Erreichen seiner Ziele greifen kann. Global Player fühlen sich an überhaupt keine Regeln mehr gebunden, empfinden also auch keine Scham bei Übertretungen, die für sie augenscheinlich nicht gelten.

Die Tatsachen, die das Suchtverhalten im Zusammenhang mit der Droge Macht betreffen, sind zwar nicht auf breiter Basis bekannt, aber unwiderlegbar. So streben gewöhnlich nicht die Aufrechten und Anständigen zur Macht, sondern die Skrupellosen und Korrupten. Daß diese Machtgierigen – Politiker, Manager, Bankdirektoren, Konzerneigner usw. – ihre wahren Absichten verschleiern, ist selbstredend und bedarf im Grunde keiner weiteren Erörterung.

Diese Machtstreber und Machtwilligen – ich bevorzuge den Ausdruck "Machtgeile" – sind größtenteils ebenso Opfer: von fehlender humanistischer Bildung und defizitärer Charakter-Entwicklung. Machtbedürfnis in diesem Ausmaß ist übertriebenes Kontrollbedürfnis und somit pathologisch zu bewerten. Wer andere kontrollieren möchte, versucht damit, seine Angst vor diesen anderen zu kompensieren. Die mannigfaltigen Rechtfertigungen für Machtansprüche täuschen vielleicht den Unbedarften, nicht jedoch den Informierten und in psychologisch-soziologischen Belangen Kundigen.

Die psychologische Literatur bietet umfangreiches Material zu dieser Thematik, so daß der interessierte Leser dort Vertiefendes finden wird. Zur Einführung sei Erich Fromm's "Die Pathologie der Normalität" empfohlen. Die dort befindliche Literaturliste mag den interessierten Laien weiterführen.

Wer sich wie ich und meinesgleichen aus echtem Interesse (das wörtlich übersetzt darinnen sein bedeutet) mit diesen Zusammenhängen befaßt, schützt sich durch das Erkennen dieser Kausalitäten vor dem falschen Bedürfnis nach Macht. Somit läßt sich ohne weiteres behaupten, daß Bildung – und damit meine ich nicht das, was heute so leichtfertig als Allgemeinbildung verkauft wird: das rein angelesene Wissen über berühmte Menschen oder Geschichtsdaten, sondern vielmehr humanistisch-philosophische Bildung – eine Grundlage und ein Garant für moralisch-ethisches Verhalten darstellt. Sozialisierung bedeutet nicht, wie die ahnungslosen Ökonomen (die sich Wirtschaftswissenschaftler nennen) uns lehren, den Menschen zu versklaven. (Die drücken das natürlich etwas freundlicher aus, meinen aber dennoch, unausweichliche Zwänge etablieren zu müssen, weil an jeder Wirtschaftsflaute die arbeitende Bevölkerung Schuld hat, die nicht genug malocht, die zu viel Geld für ihre Arbeit will und die sowieso ein faules Pack ist, das man täglich zur Arbeit antreiben muß.) Sozialisierung bedeutet die Vermittlung von Werten. In unserer Gesellschaft werden aber Unwerte belohnt, Werte sind verpönt. Zwar redet man im Allgemeinen von erstrebenswerten Tugenden, doch wer sich diese leistet, wer sie tatsächlich lebt, zieht nicht selten den Haß seiner Mitmenschen auf sich. Das Wort "Gutmensch" wurde längst zu einem Schimpfwort degradiert. Das Mißtrauen, das dargestellter Tugendhaftigkeit heute allgemein entgegengebracht wird, ist für mich durchaus verständlich: zu viele simulieren eine humanistische Haltung, um die Menschen damit zu manipulieren und um davon materiell zu profitieren. Im Handeln sind die meisten Menschen heute nicht mehr besonders tugendhaft. Ja, Tugendhaftigkeit hat in großen Kreisen der Bevölkerung inzwischen einen negativen Beigeschmack bekommen. Hier zeigt sich wieder einmal die Macht des psychologischen Prinzips der Rationalisierung. Der Mensch redet sich ein, gut zu sein, und ist in seinen Taten um so schlechter. Wer in seinen Taten gut ist, muß nicht ständig darüber reden. (Analog zu Leuten, die ständig übers Bumsen reden, weil sie keinen Geschlechtsverkehr haben.)

Es ist für mich in keinster Weise nachvollziehbar, warum Leute, die Abgeordnete genannt werden, nach Kriterien wie Durchsetzungsvermögen und Skrupellosigkeit ausgesucht werden. Diese Kritieren sind vielleicht einer wilden Affenhorde würdig, die sich den grausamsten aus ihrer Mitte zum Anführer wählt, aber dem, was der Mensch potentiell ist, vollkommen unwürdig.

Ich plädiere daher für eine umfassende Charakter- und Gesinnungsprüfung aller Menschen, die sich um öffentliche Ämter bewerben. Dabei sollte der jeweilige Aspirant in erster Linie auf geistige Gesundheit überprüft werden, aber auch auf seelische Verhärtungen, die Folgen früher Traumatisierungen sind. Es erscheint mir wichtig, Personen, die einen lebensfeindlichen (autoritären bis nekrophilen) Charakter aufweisen, von der Übernahme öffentlicher Ämter auszuschließen. Die psychologischen Meßwerkzeuge dafür sind vorhanden.

Ebensowenig erscheint es mir sinnvoll, einigen Wenigen unter uns den Großteil der planetarischen Ressourcen zu überlassen und der großen Masse nur die Krümel. Wieso benötigen wir heute noch gottgleiche Kaiser und Könige, auch wenn wir sie anders benennen? Die Menschen reden ständig davon, in modernen Zeiten zu leben. Doch das einzige, was diese Zeiten von früheren unterscheidet, ist die hochentwickelte Technik. Innergesellschaftlich befinden wir uns weiterhin in einer Feudalgesellschaft. Die bekannten und in der Schule erlernten Merkmale demokratischer Gesellschaftsstruktur sind lediglich rudimentär und sollen die naiven, ungebildeten Bürger davon ablenken, daß sie in Wirklichkeit gar nichts zu melden haben, sondern lediglich die Herde sind, von der sich die "Großen" nähren.

Für mich allerdings sehr verständlich und nachvollziehbar ist die Tatsache, daß Industrienationen, wie wir sie heute fast auf der ganzen Welt haben, eine sehr neue, im Vergleich mit der ganzen Menschheitsgeschichte erst Sekunden währende Erscheinung sind. Ich verstehe heute, nachdem ich viel über frühere Zeiten gelesen habe, sehr gut, daß die Menschen nicht so ohne weiteres mit dieser Lebensform zurechtkommen, daß quasi alles aus dem Ruder läuft – je mehr reglementiert wird, desto heftiger. Es wurde quasi vergessen, den Menschen ebenso weiterzuentwickeln wie die Technik.

Wenn erst einmal diese eine Einsicht, daß wir Menschen Schwestern und Brüder sind, daß wir heute mehr denn je Solidarität statt Konkurrenzverhalten benötigen, daß es auf das Bewußtsein jedes Einzelnen ankommt – wenn dieses Bewußtsein auf breiter Basis Fuß gefaßt hat, dann kanns weitergehen, dann wird echter Fortschritt unaufhaltsam. Derzeit siehts aber leider so aus, als wäre der Untergang unabänderlich vorprogrammiert. Doch davon darf man sich als echter Glaubensbruder – ja, ich glaube an das Gute im Menschen, an seine Fähigkeit, sich aus diesem Schlamassel herauszuarbeiten – nicht beirren lassen. Ich war persönlich schon sehr vielen schlimmen Situationen wie Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, gewalttätiger Übermacht gegenübergestanden u.v.m., und habe bis heute niemals aufgegeben.

Wir haben nur dieses eine Leben! Werft es nicht weg, verirrt euch nicht in Sackgassen, aus denen es dann meist kein Zurück mehr gibt! Entwickelt echtes Interesse und Engagement für das menschliche Bewußtsein! Es lohnt sich!!!