6. November 2005
Der unerträgliche Automatismus des Seins
Müdigkeit oder Willenlosigkeit?

Früher, da hatte ich eine Stammkneipe, in ihren Anfängen eine Studentenkneipe, in der sich junges Volk traf – Studenten, Kiffer, DKP-Mitglieder und was weiß ich wer noch alles. Man konnte dort wunderbar palavern, zumindest nach meinem damaligen Verständnis niveauvoller Unterhaltung, das im zarten Alter von 20 Jahren noch nicht sehr nennenswert ausgeprägt war.

Nach und nach wandelte sich die Kneipe zu einer In-Kneipe für Szene-Volk, das sich vor dem Stattfinden begehrterer Anlässe wie Kino- oder Theaterbesuch dort aufhielt. Danach, cirka zehn Jahre später, kam wieder vorwiegend Jungvolk (zu dem ich schon nicht mehr zählte), das mit dem damaligen jedoch kaum Ähnlichkeit hatte: sehr von sich selbst eingenommen, schwer auf dem Erfolgstrip, immer tiptoppe Mädels im Schlepptau und – ja – recht ungebildet. Am besten wußte noch Daniel Bescheid, dessen Eltern 15 Jahre zuvor aus Kroatien eingewandert waren, auch er ein "Erfolgstyp" mit Stadtcafé-Manieren und Bügelfaltenhose. Er jobbte gelegentlich hinterm Tresen, um sich Kohle für's Ausgehen zu verdienen, weil er noch in der Ausbildung steckte.

Daneben gabs die richtigen Stammgäste (wie mich), die bis zum Schluß, dem letzten Tag dieser Kneipe, beinahe täglich ausharrten. In dieser Zeit sind quasi alle Stammgäste zu gestandenen Alkoholikern mutiert: unter 10 Bieren und ein paar Kurzen ging gar nichts mehr. Viele davon lebten ganz in der Nähe und schienen diese Kneipe zu ihrem Wohnzimmer bestimmt zu haben.

Neben verschiedenen Arbeitsplätzen war mir diese Kneipe schon längst ein willkommenes und lohnendes Studienobjekt geworden. Hier fand ich sämtliche Klischees unserer Gesellschaft versammelt, inklusive modischer Wandlungen und laienhaft dargestellter kurzfristig moralischer Haltungen. Und genau hier machte ich meine ersten handfesten Erfahrungen mit der alltäglichen Manipulation, mit der sich die Menschen gegenseitig an der Nase herumzuführen suchen.

Damals, als ich noch nicht zu den Stammgästen zählte, keine nennenswerte Lebenserfahrung besaß und mich auch noch nicht in der jetzigen Intensität mit schwierigen Gesellschafts-Themen auseinandersetzte, brachte das ZDF eine für mich hochinteressante Sendereihe mit dem Titel: "Manipulation und wie man ihr entkommt". Ich war von diesen Enthüllungen, die für die damalige Zeit beinahe eine Ungeheuerlichkeit darstellten, so fasziniert, daß ich gar nicht anders konnte, als sie mit den Bekannten in der Stammkneipe besprechen zu wollen. Da hatte ich aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, möchte ich fast schreiben. James, der Kneipier, einer seiner besten Kunden (eine Flasche Kräuterlikör pro Abend) fühlte sich häufig von meinen selten flüsternd vorgetragenen Erkenntnissen äußerst unangenehm berührt und trachtete ständig danach, mich vor den anderen Gästen, so gut er eben konnte, unglaubwürdig zu machen. Damals hat mich das ziemlich verwirrt, konnte ich doch beim besten Willen nicht nachvollziehen, was ihn dazu trieb. Heute weiß ich um solche Motive mehr als mir lieb ist, nicht zuletzt deswegen, weil Manipulation ein weitgehend unerkanntes und unbegreifliches Phänomen darstellt – zumindest für die arglosen Opfer. Und auch jene, die über eine mehr oder weniger brauchbare Definition des Manipulationsbegriffs verfügen, kennen sie deshalb noch lange nicht: Manipulation erkennt man daran, daß man sie nicht erkennt.

Wenn man einen Gegenstand, ein Thema ausführlich und erschöpfend zu behandeln vorhat, empfiehlt es sich immer, zuvor eine Definition des Begriffs zu geben, um zu vermeiden, Mißverständnisse nachträglich nicht mehr aus der Welt schaffen zu können, die sich aus schwammigen Bedeutungen ergaben. Deshalb folgt hier eine Definition, die sich an die gängige Definition in entsprechenden Fachkreisen anlehnt:

Manipulation stellt eine spezielle Variante der Beeinflussung dar. In einer guten Absicht jemand zu seinem Vorteil zu beeinflussen (Erziehung, Therapie), ist noch keine Manipulation. Im umgekehrten Fall, wenn man in einer schlechten Absicht jemanden zum eigenen Vorteil zu beeinflussen sucht, handelt es sich um Manipulation. Der Begriff ist abgeleitet vom lateinischen manus, die Hand, und dem ebenfalls lateinischen pulere, das füllen bedeutet, also quasi eine zum Füllen bereitgehaltene Hand (Bakshish). Die Manipulation steht somit für jene Vorgehensweise, welche die eigene Hand zum Nachteil des Manipulierten füllt.

In der Legende vom heiligen Genulf wird berichtet, daß ein Ehemann seine blinde Frau zu ihm geführt habe, und Genulf sie sehend machte. Für das Führen der Blinden an der Hand wird das Wort manipulare verwendet. Der ursprüngliche Sinngehalt steckt noch in manchen Definitionen der Manipulation, wie zum Beispiel einer "kunstgerechten Handhabung. Anwendung der nötigen Handgriffe", so das Konversationslexikon von Brockhaus aus dem Jahr 1929.

Später erklärte man Manipulation kritischer, aber auch nicht sehr viel präziser. In Meyers Enzyklopädischem Lexikon von 1977 finden wir dazu: "Beeinflussung des Menschen (als Einzelwesen oder als Gruppe) zum Zwecke einer systematischen zielgerichteten Lenkung und Prägung des Bewußtseins, der Denkgewohnheiten, Gefühlslagen. Manipulation verhindert selbständige Entscheidung, gefährdet die personale und soziale Autonomie des Betroffenen, begünstigt emotional-affektuelle statt rationale Entscheidungen, baut jedoch gleichzeitig neue, gewünschte soziale Leitwerte und Beurteilungsmaßstäbe auf, wo denen auf gelernte einfache 'Signale' hin reagiert wird." Und im "Neuen deutschen Wörterbuch" von 1953 wird Manipulation schlicht als "Geschäftskniff" ausgewiesen, wozu wir im Laufe dieser Artikelserie noch kommen werden (Produktreklame).

Manipulation ist also nicht jede Beeinflussung, wie es manche überzogene Definition glauben machen will, die in sich selbst schon wieder einen massiven Manipulationsversuch darstellt. Wenn es nämlich keinen Begriff für die moralisch verwerfliche, weil hinterhältige Beeinflussung mehr gibt, kann man nur noch schwer darüber debattieren, was den heutigen Profi-Manipulateuren sicher nicht ungelegen käme.

Aber auch nicht jede Produktreklame ist automatisch Manipulation. Und nicht jede Manipulation ist lediglich Beeinflussung. Wer schon einmal mittels K.O.-Tropfen beraubt wurde (beim Tanzen nicht aufs Glas geachtet und im Müllhaufen hinter der Disko wieder zu sich gekommen), der kennt auch die manipulative Einwirkung (oder die rituelle Deformation wie Beschneidung, Klitoris-Verstümmelung und Vagina-Vernähung, die noch heute in nicht wenigen afrikanischen Gegenden stattfindet). Mir geht es in dieser Artikel-Reihe aber ausschließlich um die geistige Manipulation, die ich im Folgenden genauer definieren möchte:

Geistige bzw. Gefühls-Manipulation ist keine Nebensächlichkeit, sondern stellt eine nachdrückliche Beeinflussung dar, die tief im Opfer Wurzeln schlagen und ihn so nachhaltig im Sinne des Manipulators verändern soll, und zwar – selbstredend – ohne, daß es dem Opfer oder seinen Mitmenschen auffällt. Ein Manipulateur kann nicht offen und ehrlich seine Interessen verfolgen, weil er aus nachvollziehbaren Gründen mit einer Ablehnung rechnet. Als Beispiel stellen wir uns einen Vertreter vor, der bei Herrn Kienzle klingelt und ihm etwas verkaufen will. Herr Kienzle öffnet die Tür, der Vertreter zeigt sein Produkt, Herr Kienzle entgegnet, daß er kein Interesse hat – und tschüß. Ende der Vorstellung. Um sein Produkt an den Mann oder die Frau zu bringen, ist der Vertreter also auf Manipulationstechniken angewiesen, die es ihm ermöglichen, vor dem Vertragsabschluß das Vertrauen des potentiellen Kunden zu gewinnen. Mit reiner Überzeugungskraft käme der Vertreter nicht zum Zuge, da sachliche Argumente zumeist auf einen wachen Verstand stoßen und bei fehlendem Interesse zum Schließen der Haustür führen. Wichtig für den Begriff der Manipulation ist die zielgerichtete Beeinflussung zum Vorteil des Manipulateurs. Manipulation betrügt den Betroffenen.

Die psychische Manipulation läßt sich (in den gängigen Fachbüchern einhellig) in fünf Hauptformen unterteilen:

Nicht immer sind dem Manipulator diese Zusammenhänge bewußt, da wir Menschen einerseits eine unvorstellbar lange Tradition der gegenseitigen Manipulation pflegen und andererseits kein sich für moralisch einwandfrei haltender Mensch solche Machenschaften in seinen eigenen Verhaltensweisen erkennen möchte und daher auch kaum erkennen wird. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Manipulation besteht in der Suggestion. Ich werde im Verlauf der Artikel-Reihe noch auf die bekanntesten und gebräuchlichsten Suggestionsmethoden eingehen.

Weil Menschen gewöhnlich außerordentlich um ihre Integrität und geistige Unversehrtheit wie auch um ihre Autonomie besorgt sind, darf Manipulation nicht auffallen, muß sich im Verborgenen halten und kann deshalb nur verdeckt eingesetzt werden. Hier liegt, will ich meinen, eine großartige Gelegenheit, Manipulateure durch Aufdecken ihrer Vorgehensweise zu entlarven und so ihre Zahl und Heftigkeit zu reduzieren. Bis dahin bleibt Manipulatin eine geheime Beeinflussung.

Ein fast kurioser, aber dennoch nicht lustiger Umstand besteht in der Tatsache, daß Manipulation gewöhnlich maßlos unterschätzt wird. Kaum ein Mensch wird sich oder anderen eingestehen, ein Opfer geistiger Manipulation geworden zu sein. Die Betroffenen reden sich das quasi ein, weil sie entweder nicht als Jammerer oder geistig Minderbemittelter hingestellt werden wollen, wenn sie eine an ihnen gelungene Manipulation eingestehen. Goethe hatte sich einst darüber lustig gemacht:

Ein Jemand sagt: "Ich bin von keiner Schule
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;
Auch bin ich weit davon entfernt,
Daß ich von Toten was gelernt."
Das heißt – wenn ich ihn recht verstand:
Ich bin ein Narr auf eigne Hand!

Wissen ist Macht – Wissen ist Entmachtung der Manipulateure. Doch hüte man sich vor der Gegenmanipulation, die meist mit der Rechtfertigung der Heimzahlung mit gleicher Münze einhergeht: Die Gegenmanipulation eskaliert in aller Regel. Der Manipulator fühlt sich durch sie bestätigt und strebt danach, noch wirkungsvollere Techniken zu entwickeln bzw. zu finden. Einzig seine Entlarvung kann ihn vielleicht von weiteren Manipulationsversuchen abhalten.

Zum Ende möchte ich noch ein Wort über die Demokratiefähigkeit unserer Bevölkerung verlieren: In Diktaturen wäre der Versuch, Manipulation eindämmen zu wollen, völlig sinnlos, wogegen er sich in einer Demokratie nicht nur lohnt, sondern sogar demokratisch geboten ist. Wir benötigen für das Gelingen einer echten gelebten Demokratie (nein, ich bin in keiner Partei und strebe auch keinerlei politische Ämter an) authentische Menschen, die willensstark und emanzipiert auf eine anständige und aufrichtige Weise für ihre Interessen einstehen. Wir brauchen, um einen fast schon zu Tode gequälten Begriff zu verwenden, mündige Demokraten zum Herbeiführen demokratischer Verhältnisse. Der jetzige Zustand der Bundesrepublik wie auch vieler anderer sogenannter Demokratien kommt lediglich einem billigen Abklatsch des Demokratiebegriffs nahe.