30. April 2005
Wir leben in einer autoritären Gesellschaft

Der Titel meines Beitrags mag für viele provokativ klingen, insbesondere für jene, denen die autoritären Momente unseres Systems und vergleichbarer Gesellschafts-Systeme im großen und ganzen entgehen, aber sicher auch für jene, die von diesem Zustand nicht schlecht profitieren oder ihm gar mit ihrem Charakter entsprechen.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, weil der Begriff "autoritär" zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen transportiert, möchte ich mich zu Anfang einer etwas eingehenderen Definition widmen. Grob gesagt bezeichnet "autoritär" in der Negativbesetzung relativ starre Befehlsstrukturen und Hierarchien. Der autoritäre Mensch bzw. Charaker sieht seine jeweilige Kompetenz in erster Linie durch seine jeweilige Position auf der Hühnerleiter gegeben und nicht durch seine Fachkenntnis. Der autoritäre Charakter, wie ihn beispielsweise Erich Fromm in "Anatomie der menschlichen Destruktivität" beschreibt, ist der normale, angepaßte Zwangscharakter, entstanden durch die Nicht-Berücksichtigung elementarer seelischer Zusammenhänge während seiner Erziehung. So werden Kinder auch heute noch viel eher dressiert als erzogen, will heißen, durch Strafe und Angstmache zum gewünschten Verhalten bewegt statt durch Überzeugung. Alfred Adler hat in seiner frühen Schrift "Über den nervösen Charakter" (1912) berreits fünf Grundprinzipien für die Kindererziehung aufgestellt, die noch heute weitgehend verletzt werden. Das Resultat sind entmutigte, geschwächte Menschen, die alles ihnen Erreichbare zur Kompensation ihrer Schwächen heranzuziehen gezwungen sind und die deshalb nicht über freie Energien verfügen, wie sie beispielsweise Zivilcourage erfordern würde. In der Positiv-Besetzung gibt es das Wort "autoritär" nicht, sondern nur den Begriff "Autorität", wie z.B. in dem Satz "Er ist eine Autorität in seinem Fach", womit man ausdrücken will, daß der so Bezeichnete über ausgezeichnete bis überragende Fachkenntnisse verfügt.

Thorsten Stegemann gibt in seinem Artikel ein Interview mit dem Politologen Peter Widmann wieder. Widman sagt im Interview:

Drittens, und damit kommen wir zu einer grundsätzlicheren Überlegung, ist die Vorstellung von einer autoritär geordneten, homogenen Gesellschaft offensichtlich für viele Wähler ansprechend, insbesondere für solche, die über eine geringe formale Bildung verfügen. Die Analysen zeigen, dass die Rechten gerade von jungen, schlecht ausgebildeten Männern gewählt werden, die hier ihre traditionellen Rollenbilder und ihre Vorstellungen von Männlichkeit wiederfinden.

Das ist zwar relativ ungenau, aber nichtsdestoweniger zutreffend. In "besseren" Kreisen gehört es einerseits zum guten Ton, nicht rechts zu wählen, andererseits sind gebildete Akademiker in der Regel durch ihre Bildung zumindest teilweise davor geschützt, auf allzu offensichtliche Demagogie hereinzufallen. Dennoch schützt bekannterweise Intelligenz nicht vor Dummheit bzw. dummem Verhalten, aber das ist eine andere Geschichte. Zudem ermöglicht (akademische) Bildung andere Formen der Fremd- und Selbstbestätigung wie auch der Selbsttäuschung.

Gerade die Unterschicht unserer Gesellschaft hat unter den autoritären Strukturen am meisten zu leiden, weil diesen Menschen die wenigsten Möglichkeiten zur Kompensation ihrer Hilf- und Machtlosigkeit gegeben sind. (Und ich weiß ganz genau, wovon ich hier schreibe, habe ich doch mein ganzes bisheriges Leben in dieser Schicht verbracht.) Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Hitlers NSDAP den größten Zulauf aus der Schicht des damaligen unteren Mittelstandes verzeichnen konnte. Diese Leute, zumeist kleinere Angestellte und Kleingewerbler, definierten ihre Position in der gesellschaftlichen Hierarchie durch die "unter" ihnen stehenden Arbeiter, gegenüber denen sie sich als etwas "besseres" fühlen konnten. Mit dem Erfolg der damaligen Arbeiterbewegung erhöhte sich jedoch das Ansehen der Arbeiter immens, so daß sich in den Kreisen der unteren Mittelschicht die unbewußte Angst breitmachte, bald niemanden mehr zu "haben", auf den man herabsehen könnte. Hitler gab genau diesen Menschen durch die Macht, die er ihnen im Zusammenhang mit einer Mitgliedschaft in seiner Partei verlieh, Auftrieb und somit ihr falsches Selbstwertgefühl zurück. Im Grunde tut die NPD nichts anderes als damals die NSDAP, indem sie Macht- und Hilflosen Macht verspricht.

Erich Fromm in "Anatomie der menschlichen Destruktivität", Kapitel 10.8:

Das Bewußtsein des Menschen, in einer seltsamen, übermächtigen Welt zu leben, und sein daraus entspringendes Gefühl der Ohnmacht könnten ihn leicht überwältigen. Wenn er sich als völlig passiv, als bloßes Objekt erleben würde, so würde er seinen eigenen Willen, seine Identität nicht empfinden. Um dies zu verhindern, muß er das Gefühl erwerben, daß er fähig ist, etwas zu tun, jemand zu etwas zu bewegen, einen "Eindruck zu hinterlassen", oder, um es mit dem treffendsten Wort auszudrücken: er muß "effektiv" sein, das heißt, er muß "wirken".

Widmann:

So ist es der NPD auch gelungen, tief in die Jugendkultur einzudringen. Es wäre also viel zu einfach, das Ergebnis der Landtagswahl ausschließlich als Ausdruck einer Protesthaltung zu betrachten. Die Dinge liegen komplizierter, zumal wir es nicht – wie in früheren Jahren – mit einer Partei ohne Unterleib zu tun haben, bei der man sicher davon ausgehen konnte, dass sie sich durch offenkundige Inkompetenz und innere Streitereien selbst wieder aus dem Parlament manövrierte. Ich bezweifle ernsthaft, dass das jetzt wieder so sein wird.

In unserer heutigen Gesellschaft, in der alles Streben und Wirken der Effizienz von Markt und Profit untergeordnet ist, in der sich das Individuum als Ware empfinden muß und demzufolge als wertlos, wenn es keine "Käufer" (Arbeitgeber) findet, ist die Gefahr ständig gegenwärtig, daß Krisenzeiten dazu genutzt werden, gewaltsame Ausbrüche unterdrückter Energien zu bewerkstelligen. Wer offenen Auges und Ohres durchs Leben geht, sieht eine zunehmende Gewaltbereitschaft gerade unter den Jugendlichen, die absolut keine Lebensperspektive weder vermittelt bekommen noch erkennen können. Gerade weil den meisten Menschen wesentliche Zusammenhänge menschlichen Verhaltens und menschlicher Gesellschaften nicht geläufig sind, sind sie nicht in der Lage, ihre Perspektivlosigkeit zu überwinden. Auf dieser relativ primitiven Entwicklungsstufe befindliche Menschen neigen gewöhnlich dazu, einen Schuldigen für ihr persönliches Elend zu suchen und zu finden, weil ihnen die wahren Ursachen verborgen bleiben. Hier liegen die Motive für die besonders in Deutschland weit verbreitete Xenophobie.

Peter Widmann zur Verschärfung des Versammlungsrechts:

Ich halte sie für einen Fehler. Das Ziel der Rechtsextremen ist es, die Freiheit zu zerschlagen, und die demokratischen Parteien nehmen diese Beschneidung der Grundrechte jetzt im Kleinen vorweg. Es hat doch keinen Sinn, dass ich mir – aus Angst, jemand könne mir Arme und Beine amputieren – prophylaktisch schon mal einen Finger abhacke. Wir können es aushalten, wenn ein paar Skinheads durchs Brandenburger Tor marschieren, und diese Gesellschaft sollte vor allem deutlich machen, dass sie sich nicht provozieren lässt.

Hier kann ich Herrn Widmann nur zustimmen: die autoritäre Unterdrückung rechtsextremistischer Strömungen stärkt letztere, weil sie den Druck im Dampfkessel der unterdrückten und perspektivlosen Neo-Nazis weiter erhöht: Druck erzeugt Gegendruck. Leider gibt es bisher in Deutschland nur sehr wenige Konzepte und deren Verwirklichung zur Resozialisierung beispielsweise junger aggressiver Skinheads ...