27. Januar 2006
Über den autoritären Charakter V
Leben wir, um zu arbeiten, oder arbeiten wir, um zu leben?

Schließen Leistungsdruck und Sachzwänge einen menschenwürdigen Umgang miteinander aus? Zwingt uns der einengende Berufsalltag in ein Schema, das zu unserem Menschsein überhaupt nicht paßt? Gilt der Mensch im Beruf, auf Maloche nur noch durch Leistung? Weshalb ist es nur ganz wenigen vergönnt, Lust und Freude bei der Arbeit empfinden zu dürfen?

Ableitung des Begriffs "Arbeit": aus dem slavischen "akslav", das soviel wie Sklave, Knecht bedeutet, in Verbindung mit dem slavischen "rabota" (Sklaverei, Knechtschaft), aus dem sich das Wort aus dem polnischen stammende "Roboter" (Arbeitsmaschine, Maschinenmensch) entwickelte. Hierzu gehört auch "arbaneak" (Gehilfe, Diener). Verwand ist der Begriff "Arbeit" aber auch mit "Erbe" im Sinne von "der Verwaiste, der Zurückgelassene", ein zu schwerer körperlicher Tätigkeit verdingtes Kind.

Man kann schon in der etymologischen Entwicklung des Begriffs der Arbeit sehen, daß Arbeit scheinbar schon immer mit unangenehmen Empfindungen und einem harten Los in Verbindung stand. So wird auch heute noch Arbeit, vor allem die in den Fabriken am Fließband, als monoton und anstrengend empfunden. Vielen stellt sich daher heute vestärkt die Frage, ob das Malochen den einzigen Lebensinhalt darstellt.

In mehreren Umfragen, in deren Verlauf das Allensbacher Institut für Demoskopie die Frage stellte: "Glauben Sie, es wäre am schönsten, zu leben, ohne arbeiten zu müssen?" antworteten in den 60er Jahren 18 Prozent mit "Ja", während es zehn Jahre später schon 30 Prozent waren. Die Zahl ist seither weiter gestiegen. Ein Artikel in der WELT nimmt diese Thematik auf. Weitere wertvolle Hinweise findet der Interessierte via Suchmaschine unter dem Stichwort "leben ohne Arbeit" (mit Anführungszeichen eingeben).

Wo man keinen Sinn in der Arbeit sehen und bei der Arbeit empfinden kann, versucht man, sich ihr soweit wie möglich zu entziehen. Auch die hohe Besteuerung der Lohnarbeit wie des Zuverdienstes läßt Arbeit häufig als nicht mehr lohnenswert erscheinen. Sinn und Wert der Arbeit sind somit im Absinken begriffen, so daß es uns nicht wundern sollte, wenn wir in weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere bei der jungen Generation, eine Krise der Arbeit erleben. Da helfen auch noch so vorgeblich wohlmeinende Zwänge nichts.

In den Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften findet sich gewöhnlich nichts über Sinn und Wert der Arbeit, dort steht meist nur, daß Arbeit ein Produktionsfaktor sei und daß es diese und jene Lohnsätze gäbe. Interessant dagegen ist die Darstellung dessen, was in diesen Büchern als Nutzenfunktion bezeichnet wird: Das Hauptziel des Arbeiters oder Angestellten wird dort in der Freizeit gesehen, die mit dem, was der Mensch sich erarbeitet, gestaltet werden kann. Arbeit stellt sich also auch in Wirtschaftsbüchern als nicht erstrebenswertes Gut dar. Wir arbeiten, um uns das Geld für den Erwerb von Dingen zu verdienen, die wir in unserer Freizeit benötigen (sieht man einmal von den lebenserhaltenden Notwendigkeiten des Lebens ab).

Arbeit ist Lustverzicht? Ein notwendiges Übel, um mit dem erzielten Einkommen unsere Freizeit besser gestalten zu können?

In der ersten Hälfte seines Lebens gibt der Mensch seine Gesundheit hin, um sich etwas leisten und etwas zurücklegen zu können, und in der zweiten Hälfte gib er dieses Geld wieder aus, um ein klein wenig Gesundheit damit zurückzukaufen.

Betrachtet man die jahrtausendelange Erfahrung der menschlichen Arbeit als Mühe, Plackerei, Last und Lustverzicht, so kann die heutige negative Einstellung zur Arbeit nicht ernsthaft verwundern. Ein Wandel heraus aus der absoluten Übelebens-Notwendigkeit von Arbeit fand erst mit dem Beginn der bürgerlich-industriellen Gesellschaft statt, in der das Leistungsprinzip seine heutige Bedeutung zu erlangen begann. Selbstbewußtsein und soziale Anerkennung sind auch heute noch größtenteils von der Anerkennung beruflicher Leistung abhängig. Viele Menschen empfinden daher ihre eigene Arbeitslosigkeit gar nicht so sehr als materielle, sondern vielmehr als seelische Not. Ihr Selbstverständnis gerät stark ins Wanken, weil sie sich als Bittsteller und Almosenempfänger empfinden. Mit dem Wegfall der Illusion relativer Unabhängigkeit schwindet auch das Vertrauen in die eigene Kraft und Leistungsfähigkeit, schwindet das Selbstwertgefühl. Wenn sich der einfache Arbeiter auch schon vor der Arbeitslosigkeit als wenig und entfremdet betrachtete, so hatte er doch zumindest die Kompensationsmöglichkeit, sich durch die Arbeit der eigenen Hände als relativ eigenständig zu empfinden.

Hier liegt eine der tieferen Ursachen für die durch längere Arbeitslosigkeit verursachte Lethargie und das Abhandenkommen des eigenen Lebenssinns. Solange der Arbeiter noch täglich beschäftigt und abends erschöpft war, kam es ihm erst gar nicht in den Sinn, über solche Fragen nachzudenken. Jetzt sieht er sich dagegen unausweichlich mit diesen Dingen konfrontiert, was ihn verständlicherweise überfordert und nicht selten in die Depression treibt.

Was hindert aber nun den Arbeitslosen daran, mit seiner täglich 24-stündigen Freizeit etwas Sinnvolles zu beginnen, etwas, worin er selbst Sinn empfinden kann?