25. Januar 2006
Über den autoritären Charakter IV
Auswirkungen der Konditionierung zum autoritären Charakter: Unterwerfungsreflex und Autoritätsgebaren

In diesem Artikel werde ich nach bestem Wissen herauszuarbeiten versuchen, wie sich die im vorigen Artikel dargestellten frühkindlichen Einflüsse im späteren Erwachsenenalter auswirken.

Daß die Bereitschaft zur Unterordnung unter anonyme Autoritäten nicht nur im Faschismus, sondern auch in den kapitalistischen "Demokratien" angesichts der Übermacht riesiger Bürokratien eher zu- als abnimmt, wurde schon ab den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts von führenden Sozialwissenschaftlern diagnostiziert. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn die soziale Charakterstruktur der Individuen ist von der sozial-ökonomischen Struktur der Gesellschaft geprägt. Heute haben in der Tat nur noch dieser Struktur weitgehend angepaßte Individuen eine Chance auf Anstellung, gesellschaftliche Akzeptanz und gesellschaftliche Beteiligung. Diese Anpassung entspricht einem weitverbreiteten Bedürfnis nach passiver Hingabe an eine zentrale Leitfigur, wie sie durch Konditionierung während der Kindheit bereits angelegt wurde.

Die erste Beziehung zur Autorität erleben wir in der Begegnung mit dem Vater (bzw. den Eltern), dessen Ge- und Verbote wir zu verinnerlichen angehalten sind. Dadurch entsteht das, was in der Psychologie mit Über-Ich bezeichnet wird: eine psychische Kontroll-Instanz, die sich mit anderen ähnlichen Instanzen zu dem verbindet, was wir Gewissen nennen. Dieses Gewissen ist eng mit unserem Idealbild verknüpft. Selbstbeobachtung erlaubt uns, ständig zu überprüfen, ob unser Idealbild noch mit unseren Handlungen und Entscheidungen übereinstimmt. Stellen wir Diskrepanzen fest, erleben wir das als schlechtes Gewissen. Im Zusammenhang mit anderen Personen, die diesen inneren Vorgang in uns irgendwie mitbekommen, entsteht uns dann nicht selten als zusätzliche Belastung die Scham und ein Schuldgefühl.

Das Über-Ich steht damit für die Verinnerlichung äußerer Autorität, äußerer Gewalt. Das so konditionierte Individuum handelt daher nicht mehr einzig aus Furcht vor äußerer Bestrafung, sondern mehr und mehr aus Furcht vor der inneren strafenden Instanz. Die Strafe dieser inneren Instanz besteht im plötzlichen Wegfall des Wohlgefühls, indem sie beunruhigende Emotionen weckt, eben das schlechte Gewissen und die Scham darüber, dem eigenen Selbstbild nicht genügt zu haben.

Das soll aber nicht heißen, daß die innere strafende Instanz, das Über-Ich allein ausreichend wäre, um die Individuen zum Erledigen aller Aufgaben und Einhalten aller Vorschriften zu bewegen. Entscheidend ist daher häufig die Furcht vor den realen Autoritäten, vor deren Macht, aber auch die Hoffnung auf materielle Vorteile, auf Liebe und Lob von den Autoritäten, vor allem aber auch die Befriedigung, die jenen geschenkt wird, die sich diese Vorteile "verdient" haben. Man nennt diese eben genannten Aspekte daher auch "das zweckrationale Moment des autoritären Handelns", das dem betroffenen Individuum den Eindruck verschleiert, den ihm die Verdinglichung zum Instrument eines anderen sonst unweigerlich machen müßte. Das Individuum wird in der Familie, die hier als "Agentur der Gesellschaft" fungiert, auf diese Rolle vorbereitet. Der Vater, als die oberste familiale Autorität, ist dabei nicht das zufällige Vorbild dieser Rolle, sondern vielmehr das Abbild gesellschaftlicher Autorität, da er einst selbst genau so konditioniert wurde, wie er es nun weitergibt.

Solange das Ich des Kindes noch nicht vollständig entwickelt ist, hat es den eigenen triebhaften Impulsen kaum etwas entgegenzusetzen. Erst durch die Herausbildung des Über-Ich werden reglementierende Eingriffe des Vaters in das Verhalten des Kindes immer weniger notwendig. So kommt es, daß die Verinnerlichung väterlicher Autorität gemeinsam mit der Ich-Entwicklung voranschreitet und daher auch schier untrennbar mit ihr verknüpft ist. Die Grundlage, auf der der Unterwerfungsreflex beruht, wird damit schon sehr früh in der Kindheit gelegt.

Die Nachteile einer solchen Konditionierung wiegen schwer. Zwar ist das solcherart konditionierte Menschenwesen nun gegen gefährliche Triebausbrüche weitgehend geschützt, doch geht damit eine bemerkenswerte Schwächung seines Ichs einher, da sich sein Über-Ich gewissermaßen als Fremdkörper, als oberste psychische Autorität den Wünschen und Bedürfnissen des Ich entgegenstellt. Das Ich bezahlt die Komplizenschaft des Über-Ich mit der äußeren Autorität mit einer starken Einbuße an Selbständigkeit und dem Verzicht auf Souveränität, was sich als fatale Ich-Schwäche zeigt. Am ausgeprägtesten zeigt sich diese Ich-Schwäche in der autoritär-masochistischen Haltung. Die Lust an Gehorsam und Unterwerfung sind dann nicht selten stärker als Eigeninteresse und Selbsterhaltung. Man nennt das in der Psychologie eine verdeckte Triebbefriedigung, ähnlich dem "analen Charakter", der sich in Geiz, Pünktlichkeit und Ordentlichkeit usw. ausdrückt.

Wie schon in vorigen Artikeln erwähnt, gehört zum Unterwerfungsreflex auch immer das Bedürfnis, andere zu unterwerfen, wie in einer masochistischen Haltung auch immer sadistische Elemente auffindbar sind. Diese Ambivalenz drückt sich auch in der Liebe für Mächtige aus: sie schließt Haß und Neid mit ein, wobei der verdrängte Haß auf den Haß gegen Andersartige verschoben wird. Macht weckt Furcht, Schwäche weckt Verachtung und Haß. Weil man aber den Haß auf den Stärkeren gewöhnlich verdrängen muß, genießt man zum Ausgleich die Grausamkeit gegen den Schwächeren. Die Herrschaft über den Schwächeren stellt das emotionale Gleichgewicht wieder her, das durch die Unterdrückung des Hasses auf den Stärkeren ins Wanken geraten war. Sekundäre Teilhabe an der Macht kompensiert so die reale Ohnmacht gegenüber dem Mächtigen. Hieraus erklärt sich z.B. auch die psychische Funktion des Sündenbocks.

Eine besondere Eigenart eines Defekts, der die Masse der Individuen erfaßt hat und dadurch zu einem gesellschaftlich ausgeprägten Defekt wird, zeigt sich darin, daß er von den allermeisten als ganz normal erlebt wird. Meiner Auffassung nach, die ich mit den meisten Vertretern humanistischer Ideen gemeinsam habe, entspricht dem Meschen aber viel eher eine solidarische Haltung als eine von Konkurrenz geprägte. Solidarität ist auf Teilen und liebende Bezogenheit ausgerichtet, die Autonomie und Entwicklung der Eigenkräfte begünstigen, die Vertrauen in die eigene Stärke und die eigene Urteilskraft fördern.

In "Die Pathologie der Normalität" schreibt Erich Fromm über die Bedeutung des Wortes "Entfremdung" folgendes:

... daß wir uns selbst Fremde geworden sind oder daß die äußere Welt uns fremd geworden ist.

Entfremdung weist eine Analogie zur alttestamentarischen Kritik am Götzendienst auf. Für die Propheten des Alten Testaments war der Götzendiener ein Mensch, der das Werk seiner eigenen Hände anbetet. Er nimmt sich ein Stück Holz, macht mit einem Teil davon Feuer und schnitzt sich aus dem Rest eine Figur, um diese anzubeten. Diesen Vorgang nennt man Übertragung: der Mensch überträgt das Erlebnis seiner eigenen Tätigkeiten und Erfahrungen auf ein Objekt außerhalb seiner selbst. Sobald diese Übertragungsbeziehung hergestellt ist, tritt er mit sich selbst nur noch durch die Unterwerfung unter das Objekt in Beziehung, auf das er seine menschlichen Fähigkeiten übertragen hat. Auf diese Weise z.B. zu lieben hieße dann, sich dem Objekt der Liebe zu unterwerfen: "Ich bin nur gut, wenn ich mich ihr/ihm, auf den ich mein Gutsein übertragen habe, unterwerfe." Dieser entfremdete Umgang mit eigenen Eigenschaften betrifft mehr oder weniger alle menschlichen Fähigkeiten wie Weisheit, Kraft, Gerechtigkeit, Liebe usw. Entfremdung heißt aber auch, sich zu verlieren. Dabei hört man auf, sich selbst als Zentrum der eigenen Tätigkeit zu erleben:

Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, um so mehr hast du, um so größer ist dein entäußertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen. (Karl Marx, "Ökonomisch-Philosophische Manuskripte")

Für die Entfremdung in autoritären Gesellschaften ergibt sich somit eine typische Abhängigkeit, die darauf beruht, daß ich Eigenschaften und Kräfte, die eigentlich zu mir gehören, auf ein Gegenüber projiziert habe und nun auf die daraus entstandene symbiotische Bezogenheit angewiesen bleibe, davon abhängig bin. Nur im Rahmen dieser Bezogenheit kann ich mir meine entäußerten Fähigkeiten wieder zugänglich machen: "Ich darf nicht selbst entscheiden, welche Handlungen ich vollführe, wohin sich meine Interessen wenden usw. Diesen Mangel gleiche ich daher aus, indem ich mich der Macht unterwerfe und mich so zu einem Teil von etwas Größerem mache, und so die Illusion erlebe, letztlich doch meine eigenen Interessen zu verfolgen." Hier ist die Verlorenheit nahezu komplett.

Je mächtiger der Götze wird, das heißt, je mehr ich auf ihn übertrage, was ich bin, desto ärmer werde ich und desto mehr bin ich auf ihn angewiesen, weil ich verloren bin, wenn ich ihn, auf den ich alles übertragen habe, verliere. (Fromm)