16. Januar 2006
Über den autoritären Charakter I
Wie und weshalb entwickelt sich der autoritäre Mensch?

Der Begriff der Autorität umfaßt zwei recht verschiedene Bedeutungen, die sich im alltäglichen Sprachgebrauch jedoch häufig vermischen, weil diese Tatsache den meisten Menschen nicht geläufig ist. Diese Unschärfe im Denken des Durchschnittsmenschen führt in der Regel zu einer verzerrten Wahrnehmung.

Der heute gebräuchliche und längst eingedeutschte Begriff der Autorität entstand aus dem lateinischen au(c)toritas, das soviel wie "Gültigkeit, Glaubwürdigkeit" bedeutet, was wiederum verwandt ist mit dem lateinischen auctor (siehe auch: Autor), dessen Übersetzung "Gründer, Urheber" lautet. Autorität bezeichnete also vormals das "Ansehen des Urhebers" einer Sache.

Der in Zivilisationen lebende Mensch entwickelt allermeist ein sehr feines Gespür für das, was mit Autorität heute vorwiegend gemeint ist: wer das Sagen hat und wem er sich unterordnen muß, um keinen unnötigen Ärger zu bekommen. Hierbei geht es gewöhnlich nicht um die Autorität als Eigenschaft, daß nämlich der als Autorität Anerkannte seine Anerkennung durch hervorragende Sach- und Fachkenntnis erlangte, sondern vielmehr um Autorität aufgrund des sozialen Status, der nicht selten die entsprechende Qualifikation fehlen. Gewöhnlich werden alle als Autoritäten anerkannte Menschen als solche fraglos akzeptiert. Man könnte gar den Zweck gesellschaftlicher Autoritäten darin sehen, Fraglosigkeit zu produzieren.

Nach Erich Fromm (siehe Wikipedia) unterscheiden wir daher die rationale Autorität – z.B. die zwischen Lehrer und Schüler, die sich mit der Zunahme der Selbständigkeit des Schülers nach und nach auflöst – von der irrationalen Autorität, der erzwungenen Anerkennung in einer Herr-Knecht-Beziehung. Erstere gründet auf Vertrauen und vertrauensvoller Vereinbarung, die heutzutage weitaus häufiger anzutreffende Autorität jedoch basiert auf Zwang, auf dem "Recht des Stärkeren" und dessen Willen (bzw. Bedürfnis) zur Macht über andere und zur Ausbeutung des Schwächeren. So fußt die sog. epistemische Autorität (Epistemologie = Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) auf dem Wissensvorsprung des Fachkundigen, den man daher gerne – und freiwillig – als Autorität auf dem entsprechenden Gebiet anerkennt, wogegen die deontische Autorität auf "autoritärem Gehabe" basiert, das vom gesellschaftlichen Status des sich so Gebärdenden gestützt wird. Selbstverständlich existieren auch Mischformen, in denen der Betreffende zwar über herausragende Erfahrung verfügt, aber dennoch auf seine Machtposition und die daraus hervorgehende Weisungsbefugnis pocht oder angewiesen ist.

Das feine Gespür des modernen Menschen für die Frage, wem er sich unterordnen muß und wen er sich selbst straflos unterordnen kann, beruht auf frühkindlichen Erfahrungen mit der Machtposition der Eltern und wird im Laufe des Heranwachsens in einer autoritären Gesellschaft gefestigt (siehe auch meinen Artikel Wir leben in einer autoritären Gesellschaft). Hierbei gelten die im vorigen Absatz ausgeführten Unterscheidungen ebenso, wie sie im späteren Erwachsenenleben eine Rolle spielen. Tatsächlich kommt der Herr-Knecht-Autorität im menschlichen Verhalten eine weit größere Bedeutung zu als der freiwilligen Anerkennung von Wissen und Sachkenntnis. Diese traurige Tatsache wurde u.a. durch das Milgram-Experiment verdeutlicht, das bis heute seine Gültigkeit und Aussagekraft nicht verloren hat.

Ihrem Wesen nach stellt die Unterwerfung unter eine auf Macht und Stärke beruhende Autorität sowie das Bedürfnis, andere dem eigenen Willen zu unterwerfen, eine destruktive Handlung dar. Die Unterwerfung findet hier nicht freiwillig statt, sondern unterliegt dem Zwang, der Drohung mit immensen Nachteilen auszuweichen bzw. nachzugeben. Erich Fromm hat in seinem Hauptwerk "Die Anatomie der menschlichen Destruktivität" nachgewiesen, daß menschliche Destruktivität nicht einem angeborenen Instinkt des Menschen entspringt, sondern vielmehr eine erworbene Charakter-Deformation darstellt: eine Kultur-Erscheinung und kein Naturphänomen. Das fehlende Verständnis der Bevölkerung für diese Zusammenhänge führte Fromm in einem Interview mit dem Journalisten Adelbert Reif auf das Mißverständnis bzw. die fehlende Differenzierung des Begriffs der Aggression zurück.

"Aggression" wird heute meist mit "Angriffslust" übersetzt, was die weitläufige vorwurfsvolle Verwendung dieses Wortes erklärt. So wehren viele Leute Kritik, die als Angriff empfunden wird, mit dem Vorwurf "du bist aggressiv" ab und hoffen so, dem jeweiligen Kritiker damit ein Schuldgefühl zu induzieren, das ihn von weiteren Kritikäußerungen abhält. "Aggression" entstammt dem lateinischen aggressio (Angriff), das ein Abstraktum des ebenfalls lateinischen aggredi (einen Schritt vorwärts machen, heranschreiten) ist. Dabei werden in der Regel "Verteidigung unter Einsatz von Gewalt" und "Freude an Gewaltanwendung" nicht klar unterschieden. Im Vorwurf der Aggression, der auf eine unerwünschte Kritik folgt, ist diese Gleichsetzung besonders deutlich zu erkennen.

Der Begriff des Charakters wird von den Menschen heute ebenfalls sehr unterschiedlich verwendet und interpretiert. Viele, vor allem aber die Anhänger der Astrologie und des Tarot, glauben, daß der Charakter eines Menschen schon vor seiner Geburt festgelegt sei. Dagegen weisen die Ergebnisse der Psycho- und Charakteranalyse auf wesentliche Zusammenhänge zwischen den Erfahrungen des Menschen und seiner jeweiligen Charakterstruktur hin. So meint die Aussage, jemand habe Charakter, stets etwas Positives, Wünschenswertes: dem so ausgezeichneten Menschen werden feste Prinzipien, einheitliche Handlungsweise, ethisch-moralisches Verantwortungsgefühl, Kontinuität, Stabilität und viele weitere positiv besetzte Eigenschaften unterstellt. Im Grunde hat aber jeder Mensch einen eigenen Charakter. Diesen Charakter-Überbegriff könnte man definieren als ein System von Strebungen, "das sich im Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens formiert, das zwar nicht ganz unveränderlich ist, sich aber im allgemeinen nur noch wenig verändert, wenn es einmal ausgebildet ist, und das schließlich bestimmt, wie er handelt, wie er fühlt, wie er denkt." (Fromm) Der Charakter ist quasi der Ersatz des beim Menschen (wie auch bei gewissen Primaten) zurückgebildeten Instinktes, der dem Tier sein Verhalten in seiner Umwelt vorgibt.

Würde sich der Charakter des Menschen eher willkürlich entwickeln, wie beispielsweise im Falle vorwiegend genetischer (oder auch astrologischer) Vorbestimmung (Determination), würden die einzelnen Gesellschaften und Kulturen wohl eher schlecht funktionieren. Tatsächlich kann man den menschlichen Charakter auch als System von Handlungsanweisungen und -motiven beschreiben, die den Menschen dazu treiben, das tun zu wollen, was er tun soll. Die Eltern fungieren hierbei dem Kind gegenüber als "Agenten" der Gesellschaft, die dafür Sorge tragen, daß das Kind entsprechend den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Forderungen programmiert wird. In unserer Gesellschaft wird der Mensch dazu getrieben (dressiert, konditioniert),

sich einer anonymen Autorität zu unterwerfen, das zu tun, was die Organisation verlangt, wenig Gefühle zu haben, Leistung zu produzieren, genügend Ehrgeiz zu entwickeln, um voranzukommen, aber nur gerade so viel, wie das den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht; für andere wiederum heißt es, mit dem zufrieden zu sein, was sie haben. Um es auf eine Art Formel zu bringen: der entfremdete Charakter ist der Charakter, der den Anforderungen der modernen Gesellschaft entspricht. Und jede Gesellschaft produziert den Charakter, den sie benötigt. (Fromm)

Diese Abteilung des Systems menschlicher Strebungen nennt man den sozialen Charakter, der natürlich mit den Resten an Individualität oder Eigensinn, mit den nicht den gesellschaftlichen Anforderungen gehorchenden Charakterstrukturen untrennbar verbunden ist.

Nun gibt es den Zivilisationsmenschen, der einen beträchtlichen Teil seiner Charakterstruktur den Gegebenheiten und Erfordernissen seiner Kultur, seiner ihn umgebenden Gesellschaft anpaßt und unterwirft, schon etliche Jahrtausende, vielleicht sogar einige zehntausend Jahre lang. Noch weitaus älter allerdings – und heute leider größtenteils ausgestorben oder ausgerottet – sind Kulturen mit einer weitgehenden Orientierung an der Natur, an den eigentlichen biologischen Grundlagen des Lebens. Das ungepanzerte Leben allerdings, der Mensch ohne die heute so notwendig erscheinende Gefühls- und Charakterpanzerung, ist in unseren modernen Gesellschaften kaum überlebensfähig. Mit anderen Worten: Menschen, die sich durch inneren Gefühlsreichtum durch eine klare Verbindung zwischen Herz (oder Bauch) und Verstand bewahrt haben, sind in unserer Gesellschaft gewöhnlich wenig bis gar nicht erfolgreich in dem Sinne, wie Erfolg heute verstanden wird: Erringung gesellschaftlichen Ansehens, Ansammlung materieller Güter, Emporsteigen auf der Hühnerleiter der Gesellschafts-Hierarchie und dem Erreichen von Machtpositionen. Solche Menschen werden vom gepanzerten Menschentier als willkommene Opfer und leichte Beute ihres Machtstrebens empfunden, ja, sie lösen nicht selten einen schier unwiderstehlichen Vereinnahmungs-Impuls bei den sich selbst entfremdeten Mitmenschen aus. Daher rührt die bedauerliche Tatsache, daß Menschen, die eine gewisse Natürlichkeit und Echtheit bewahrt oder wiedererlangt haben, heute äußerst selten anzutreffen sind. Viele dieser Menschen flüchten sich in Neurosen oder gar Psychosen, erkranken regelrecht an den für sie unerträglichen Zuständen, denen sie hilflos ausgeliefert sind. Von der überwältigenden Mehrzahl der gepanzerten Zeitgenossen werden diese Menschen für schwach, fehlerhaft, krank und lebensunfähig gehalten.

Der Sinn und Zweck früher menschlicher Gemeinschaften war einstmals ganz klar umrissen: das Überleben des Menschen zu sichern und zu erleichtern. Auch heute noch gilt dieser Zweck offiziell, doch scheint es, als wäre er in Wirklichkeit den Verantwortlichen, den Führern und Führungskräften der verschiedenen Gesellschaften, irgendwie abhanden gekommen. Wie wäre es sonst zu erklären, daß seit langer Zeit alle sonstigen Werte dem rein materiellen Wachstum und Wohlstand untergeordnet sind? Wie können Werte bewahrt werden, deren Bedeutung kaum noch einem Zeitgenossen wirklich einleuchtet, die kaum noch einem Menschen direkt bewußt sind, nur noch von Wenigen direkt empfunden werden? Ist es nicht eine logische Schlußfolgerung der zunehmenden Entfremdung, daß Werte wie Aufrichtigkeit vor allem sich selbst gegenüber, Respekt vor dem und Mitgefühl für den Nächsten, kurz: humane Empfindung und Lebensauffassung weitgehend verloren scheinen? Werden heute nicht Führungspositionen weitestgehend aus dem Willen zur Macht und zur Unterwerfung angestrebt und nicht, wie es sein sollte, aus dem tiefinneren Wunsch heraus, seinen Mitmenschen Gutes zu tun, ihnen zu dienen?

Ganz abgesehen davon, daß unser derzeitiges Verständnis von Güterverteilung (Volkswirtschaft) und vorwiegend materiell verstandenem Wohlstand unsere Gesellschaften in schier unlösbare Konflikte stürzt, gehen wir scheinbar unaufhaltsam einer regelrechten Entmenschlichung entgegen. Unsere emotionale Bezogenheit zu den Dingen des täglichen Umgangs ist im steten Abnehmen begriffen, was automatisch das Bedürfnis nach zunehmender Kontrolle induziert. Kontrollbedürfnis ist ein Ausdruck von bzw. eine Reaktion auf die Angst, von dem zunehmend unverständlichen und bedrohlich wirkenden Außen überrollt und vereinnahmt (gefressen) zu werden. Dabei kann man ohne Übertreibung sagen, daß das Kontrollbedürfnis mit der Angst und jene wiederum mit dem Kontrollbedürfnis wächst. Das zunehmende Bedürfnis, seine Mitmenschen zu kontrollieren, entsteht aus der abnehmenden Bezogenheit auf dieselben: weil wir unsere Mitmenschen immer weniger oder gar nicht mehr verstehen, suchen wir sie zu kontrollieren.